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Michael Hüther auf cicero.de Interview 2. September 2014

Europa braucht selbstbewusste Nationen

Vereinigte Staaten von Europa oder zurück zum Nationalstaat? Für IW-Direktor Michael Hüther gibt es einen dritten Weg. In seinem heute erscheinenden Buch „Die junge Nation“ plädiert er für ein Europa der Nationen. Im Interview auf cicero.de spricht er über seine Idee.

Herr Hüther, haben Sie sich über den WM-Titel der deutschen Nationalmannschaft in Brasilien gefreut?

Ja.

Hätten Sie sich über einen Sieg der Vereinigten Staaten von Europa weniger gefreut?

Ich könnte mir im Moment gar nicht vorstellen, wie ein solches Konstrukt aussehen sollte. Es mag irgendwann in ferner Zukunft mal einen europäischen Bundesstaat geben, aber ich glaube nicht, dass ich das noch erleben werde.

Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch „Die junge Nation“, das am 2. September erscheint, mit dem Phänomen der Nationenbildung und der neuen Rolle Deutschlands in einem Europa der Nationen. Wie sind Sie als Ökonom darauf gestoßen?

Ich bin ja nicht nur Ökonom, sondern auch Historiker und schon aus dem Studium war mir der von Helmuth Plessner geprägte Begriff von Deutschland als „verspäteter Nation“ vertraut. Die Idee zu dem Buch entstand, als ich im Juni 2011 eingeladen wurde, im Naumburger Dom einen Vortrag zu halten zum Thema der Landesausstellung „Der Naumburger Meister – Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen“ unter Berücksichtigung der europäischen Einigung.

Bei der Debatte über die zukünftige Ausrichtung in Europa, im Zusammenhang mit der Finanz- und Schuldenkrise, schien es nur zwei Extrempositionen zu geben: Die einen befürworten eine Art Vereinigte Staaten von Europa, parallel zur Währungsunion eine enge politische Union, also einen föderalen Bundesstaat. Die anderen, wie zum Beispiel die AfD, wollen die Währungsunion verlassen oder EU-Mitglieder ausschließen. Auch in anderen Ländern hat die Krise zu einem Widererstarken rechtspopulistischer Parteien geführt. Wo positionieren Sie sich mit Ihrem Buch zwischen diesen Extremen?

Ich stelle die Europäische Union in ihrer grundsätzlichen Form überhaupt nicht in Frage. Ich bin ein großer Anhänger der europäischen Idee, plädiere aber dafür, die Kräfte der einzelnen Nationen für Europa zu mobilisieren. Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors hat leider mal diese missliche Metapher in die Welt gesetzt: „Europa ist wie ein Fahrrad. Hält man es an, fällt es um.“ Das gilt vielleicht für Kinder, die das Radfahren gerade lernen, aber wenn man weiß, wie es geht, kann man auch mal abbremsen und sich mit den Füßen abstützen. Konkret heißt das, auch mal zu würdigen, welche Integrationsleistung wir in sechs Jahrzehnten vollbracht haben. Jetzt können wir es mit der Währungs-, Fiskal- und Bankenunion erstmal bewenden lassen und dafür sorgen, dass die funktionieren. Und die Grundfreiheiten des Binnenmarkts und das Schengenabkommen, diese Errungenschaften müssen wir verteidigen.

Aber brauchen wir nicht trotzdem im Sinne von Delors ein Ziel, wie das Projekt weitergehen könnte, zum Beispiel mit einem europäischen Bundesstaat?

Auf europäischer Ebene neigen wir häufig dazu, den dritten und vierten Schritt zu machen, bevor wir den zweiten abgeschlossen haben. Dadurch verkennen wir, was wir in Europa schon geschafft haben. Das ist fatal, weil man durch Visionen, die schnell an die Wand projiziert werden können, immer gleichzeitig die Gegenwart entwertet. Beim Schreiben des Buchs habe ich gemerkt, dass es zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten weiterhin in vielen Bereichen eine sehr starke Differenzierung gibt. Es ist unsinnig, diese Vielfalt zu unterdrücken, weil sie kennzeichnend für Europa ist und zu den großen Stärken der EU gehört.

Was für Unterschiede meinen Sie?

Der ehemalige Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt erzählte zum Beispiel mal von einem gemeinsamen Auftritt mit deutschen Gewerkschaftlern in Paris. Wenn die Herren dort auf ihre französischen Pendants trafen, sei eine gemeinsame Diskussion nur schwer möglich gewesen. Die Franzosen konnten schon mit dem Begriff der Sozialpartnerschaft nichts anfangen. Das kooperative Verhältnis der deutschen Arbeitgeber und Arbeitnehmer war ihnen immer etwas suspekt, weil in Frankreich der Umgang zwischen Gewerkschaftsfunktionären und Unternehmern traditionell sehr viel konfrontativer ist als bei uns.

Aber kann man denn nicht gegenseitig voneinander lernen und die jeweils besten Lösungen in allen Mitgliedsstaaten einführen?

Das ist schwieriger als man denkt und dauert sehr lange. Die Spanier haben schon in den achtziger Jahren versucht, das deutsche System der dualen Berufsausbildung zu kopieren: Der Staat hat dafür eifrig Berufsschulen errichtet. Den damaligen spanischen Verantwortlichen ist es aber nicht gelungen, die Unternehmen davon zu überzeugen, ihren Teil der Verantwortung – nämlich die Ausbildung der Lehrlinge im Betrieb – zu übernehmen. Man vergisst bei solchen Kopierversuchen auch immer, dass das System der dualen Ausbildung in Deutschland über 100 Jahre alt ist und entsprechend viel Zeit hatte, sich zu entwickeln. Das Beispiel zeigt aber auch, wie tief bestimmte Regelungen in den einzelnen Nationalstaaten historisch und kulturell verwurzelt sind.

In Deutschland fremdeln wir mit dem Begriff Nation aber bis heute. Woran liegt das?

Der Begriff hatte schon immer zwei Gesichter, weil bei der Nationenbildung zwei Arten von Freiheit eine Rolle spielen. Erstens die Autonomie des Individuums in einem republikanisch und demokratisch ausgerichteten Staatswesen, zweitens aber, gerade in der Entstehungsphase der Nationalstaaten in Europa Mitte des 18. Jahrhunderts, die Abgrenzung der Nation nach außen auch in militärischer Hinsicht oder bei der Ausgrenzung von Minderheiten. Letzteres stand bei der Diskussion in Deutschland aufgrund unserer Geschichte immer im Vordergrund. In Frankreich, der gerne so genannten Grande Nation, ist der Begriff dagegen viel positiver konnotiert, weil er dort dank der französischen Revolution vor allem mit der Befreiung von der Monarchie, der Entstehung des Bürgertums und der Erkämpfung bürgerlicher Rechte verbunden wird.

In der Bundesrepublik gehörte es zur Staatsräson, dass nach dem Dritten Reich und Holocaust die Bundesrepublik fest in Europa verankert sein muss. Für die Betonung des Nationalstaats war da kein Platz.

Das stimmt. Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die deutsche Skepsis gegenüber dem Nationalstaat. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 wurde bei uns die Bildung der Nation von der Frage der Freiheit des Individuums entkoppelt. Die Bildung des Reiches lag in der Hand der Fürstentümer. Anders als in Frankreich oder in England war die Gründung des Deutschen Reichs als Nation ein Akt der Obrigkeit, eine Anordnung von oben. Der identitätsstiftende Teil, sich eine neu gewonnene Freiheit und Autonomie selbst erkämpft zu haben, fiel dadurch hinten runter. Ebenso die Sicherung der individuellen Freiheit.

Hat sich in den letzten 25 Jahren seit der Wiedervereinigung die Einstellung hierzulande geändert?

Wir haben erst seit 1990 alle Komponenten zusammen, die man zu einer friedlichen Nationsbildung braucht. Deswegen habe ich das Buch auch „Junge Nation“ genannt. Aber wenn auch zögerlich, so haben wir doch seit der Wende weniger Schwierigkeiten, uns zu Deutschland zu bekennen. Unsere Nachbarn sind da mit ihrem Blick von außen auf uns wesentlich weiter, auch aus internationaler Perspektive gilt dies. Die sehen uns viel positiver als wir uns selbst. Sie leiten daraus aber auch Forderungen ab, dass wir uns und unsere Stärken offensiver einbringen sollen. Am besten hat das vielleicht Polens Außenminister Radoslaw Sikorski zusammengefasst mit dem Satz: „Ich habe weniger Angst vor deutscher Macht, als ich anfange, mich vor deutscher Inaktivität zu fürchten.“

Aber die uns auch von außen zugedachte Führungsrolle in Europa nehmen wir doch nur sehr zögerlich an?

Da muss man unterscheiden zwischen dem, was öffentlich gesagt wird und dem, was tatsächlich passiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist auf der internationalen Bühne sehr durchsetzungsfähig.

Trotzdem sind zwei Drittel der Bevölkerung gegen die Waffenlieferungen an die Kurden. Die Bundesregierung braucht sehr lange bei diesen Themen, um eine Entscheidung zu treffen. Auch in Libyen haben wir uns nicht an den Einsätzen gegen das diktatorische Gaddafi-Regime beteiligt. Beanspruchen wir auch 25 Jahre nach der Wende immer noch Welpenschutz mit dem Verweis auf unsere historische Vergangenheit?

Die Entscheidung zu Libyen war meines Erachtens falsch. Bei der Diskussion um Waffenlieferungen an die Kurden geht es eher darum, wie man verhindert, dass diese Waffen in falsche Hände geraten. Aber um die Definition der Rolle Deutschlands in der Welt ging es doch in der Rede von Bundespräsident Joachim Gauck bei der Münchener Sicherheitskonferenz: Es ist beachtlich, wenn das deutsche Staatsoberhaupt sagt, es gäbe keine Legitimation mehr aus unserer Geschichte, sich reflexhaft aus militärischen Konflikten herauszuhalten. Dass das auch die Linie der Bundesregierung ist, haben Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit ähnlichen Äußerungen bestätigt.

Aber kann denn die Betonung der Nationalstaaten, wie Sie sie fordern, unter dem Dach einer Art EU-Holding im Zeitalter der Globalisierung funktionieren? Können wir mit diesem losen Bund relativ kleiner Nationalstaaten im Wettbewerb mit Supermächten wie den USA und China mithalten?

Entscheidend ist nicht die Größe, sondern die Offenheit und der Wille, sich dem globalen Wettbewerb zu stellen. In den USA erleben wir doch auch gerade ein Versagen der Institutionen, wo in einem politisch gespaltenen Land – zumindest bezogen auf die Eliten gilt dies – der Kongress fast alles blockiert und der Präsident per Dekret regiert. Und China steht vor der gigantischen Herausforderung, eine irgendwie geartete föderale Struktur für 1,4 Milliarden Menschen einrichten zu müssen. Denn sie können das nicht weiter alles aus Peking steuern.

Und macht es Ihnen Sorgen, wenn jetzt noch jüngere Nationen entstehen durch eine Abstimmung über die Unabhängigkeit in Schottland oder ähnlicher Bestrebungen im Baskenland oder in Katalonien?

Nein, weil ich nicht davon ausgehe, dass die Schotten sich in der Mehrheit für die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich entscheiden. Viel gefährlicher wäre es, wenn sich aus einem fehlgeleiteten Nationalismus heraus Mitgliedsstaaten von Europa komplett abwenden. Das hielte ich für fatal.

Aber rufen Sie mit ihrem Plädoyer für eine Betonung des Nationalstaats nicht möglicherweise genau diese Geister hervor, die Sie dann nicht wieder loswerden?

Nein, diese Geister sind ohnehin da. Daher ist das Dümmste, was man machen kann, ihnen das Feld zu überlassen. Die Augen davor zu verschließen und die Debatte gar nicht zu führen, halte ich für brandgefährlich. Man verschenkt dann zugleich die großen Gestaltungspotenziale, die in einer positiven Wendung der Nation liegen.

Zum Interview auf cicero.de

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