1. Home
  2. Presse
  3. Ein Schuss ins eigene Knie
Zeige Bild in Lightbox Ein Schuss ins eigene Knie
(© Foto: Nicola Ferrari/iStock)
Michael Hüther in der Börsen-Zeitung Interview 28. Juni 2016

Ein Schuss ins eigene Knie

Worauf muss sich nach seinem Brexit-Votum einstellen und welche Folgen kommen auf die EU und den Euroraum zu? Das fragte die Börsen-Zeitung sechs deutsche Ökonomen, darunter IW-Direktor Michael Hüther.

Werden die Briten das Votum noch bereuen? Oder öffnet es für das Land neue positive Perspektiven?

Die Briten werden sowohl wirtschaftlich als auch politisch an Bedeutung verlieren. Verlässt das Land den EU-Binnenmarkt, könnten britische Exporte trotz schwachen Pfunds teurer werden: Außenzölle werden erhoben, Freihandelsabkommen mit an-deren Wirtschaftsräumen neu verhandelt. Und auch politisch gewinnt das König-reich nur auf den ersten Blick an Unabhängigkeit. Es ist wahrscheinlich, dass die Briten sich auch weiterhin den europäischen Regeln unterwerfen müssen – ähnlich wie beispielsweise Norwegen.

Wie groß ist das Erpressungspotenzials Großbritanniens gegenüber der EU etwa angesichts seiner Bedeutung für EU-Exporteure?

Großbritannien ist der drittgrößte Kunde deutscher Waren, 7,5 Prozent der deutschen Warenexporte gehen auf die Insel. Das Erpressungspotential der Briten ist dennoch eher als gering einzuschätzen. Schließlich ist es die Position der britischen Regierung, in jeden Fall den Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt behalten zu wollen. Es ist zu bezweifeln, dass die EU-Vertreter ihnen dies ohne garantierte Personenfreizügigkeit zubilligen werden (Grundsatz der Gegenseitigkeit).

Glauben Sie, dass sich Schottland nun doch von Rest-Britannien abspalten wird?

Die Reaktion der Ersten Ministerin Schottlands kam prompt. Man strebe nun ein weiteres Referendum zum Austritt aus dem Königreich sowie Gespräche mit der Europäischen Union an. Inwiefern eine mögliche Abstimmung in naher Zukunft realistisch ist, und ob unter den Schotten dann Europazugehörigkeit vor Königreich geht, ist heute reine Spekulation. Was hingegen deutlich wurde: Es gibt große regionale Disparitäten unter den Bevölkerungsgruppen in Großbritannien. Keine einfache Aufgabe für die Regierung. Und interessant für alle: Die Schotten wollen unabhängig werden, um europäisch bleiben zu können.

Stürzt die britische Wirtschaft jetzt in eine tiefe Rezession?

Verschiedene Institute haben ihre Wachstumsprognose für die britische Wirtschaft um ganze zwei Prozentpunkte gekürzt. Das wäre massiv, denn zunächst ändert sich faktisch nichts. Aber die Unsicherheit auf den Märkten gibt einen Vorgeschmack auf das, was die Briten erwartet. Insbesondere in der Frist, in der die Wirtschaftsakteure in der Luft hängen. Was man dabei nicht vergessen darf: In den vergangenen Jahren hatte sich die Insel jedoch immer mehr zu einem Wachstumsmotor Europas gemausert. Dieser Erfolg steht jetzt auf der Kippe.

Wie wird sich die Bank von England verhalten?

Der Brexit war ein Schock für die Finanzmärkte. Die Bank of England muss nun alles für die Erhaltung der Finanzstabilität tun. Dazu gehört auch die Beruhigung der Marktteilnehmer, die bei hoher Unsicherheit schnell zur Überreaktion neigen. Dies konnten wir bereits in der Euro-Krise sehen, als die EZB massiv intervenieren mussten, aber auch nach der Insolvenz von Lehman-Brothers. Es ist richtig, dass die Bank of England zur Erhaltung des Vertrauens weitere 250 Milliarden Pfund in den Markt gegeben hat.

Wird die EU den Abspaltungsprozess Großbritanniens in einem Stück überleben? Oder ist es der Anfang vom Ende?

Nach dem Referendum ist wieder ein Chor aus Separatisten und Populisten zu hören, die ihrer Forderung nach Nationalstaat Ausdruck verleihen. Die EU muss es schaffen, ihre Stärken besser zu den Bürgern zu tragen. Sie ist der Garant für Frieden und Wohlstand auf dem Kontinent. Von den vier Grundfreiheiten profitieren letztlich alle Unions-Bürgen. Schafft sie es wieder, ihre Stärken zu vermitteln, wird die EU ihre weltweite Vorbildfunktion wiedererlangen.

Wird Brüssel gegenüber Großbritannien ein Exempel statuieren und beim Zugang zum Binnenmarkt harte Bedingungen verlangen?

Die EU hat keinen Grund, Großbritannien mit Samthandschuhen anzufassen. Es ist jedoch auch nicht zu erwarten, dass ihr daran gelegen ist, ein Exempel zu statuieren. Es gilt bei allem Regeln der Grundsatz der Reziprozität. Wollen die Briten keinen wirtschaftlichen Schiffsbruch erleiden, werden sie Kompromisse eingehen müssen. Anderen Ländern wird dies ein Vorbild sein, welche Nachteile ein Land durch einen EU-Austritt zu schultern hat.

Welche wirtschaftlichen Folgen sind für die EU und für Deutschland zu erwarten - unmittelbar und längerfristig?

Unmittelbar müssen alle Akteure mit der hohen Unsicherheit umgehen. Diese führt insbesondere an den Finanzmärkten zu einer Volatilität, die sonst nur zu Zeiten der Größten Finanz- und Wirtschaftskrisen zu beobachten ist. Als Exportnation, wird Deutschland selbstverständlich leiden, sollte sein drittgrößter Handelspartner wie-der Importzölle erheben. Aber es ist nicht seriös möglich, dies in Zahlen zu gießen.

Welche Reformschritte müssen in der EU nun umgehend eingeleitet werden?

Die EU darf nun nicht den Fehler machen, in Integrations- oder Desintegrationspanik zu verfallen. Vielmehr sollte sie konsolidieren, welche sinnhaften Reformen sie während der Euro Krise auf den Weg gebracht hat, um diese den Bürgern schlüssig zu vermitteln. Perspektivisch sollte es Projekte geben, die die Union weiter zusammenführen. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik inklusive der längst fälligen Verteidigungsgemeinschaft sollten an erster Stelle stehen.

Was bedeutet das Votum für den Euroraum und die EZB-Geldpolitik?

Die Banken im Euroraum haben gerade eine schwere Banken- und Staatsschuldenkrise überwunden. Ihnen drohen durch den Brexit-Schock nun neue Verwerfungen. Auch die EZB hat nun die Aufgabe, die Märkte zu beruhigen und für Finanzstabilität zu sorgen. Notfalls muss auch sie ihre Bilanz stark ausweiten.

Welche Folgen hat das Votum für den geplanten Zusammenschluss der Deutschen Börse und der Londoner Börse?

Vermutlich keine. Gerade jetzt ist eine Fusion attraktiv. Denn durch einen Brexit droht der London Stock Exchange ein erschwerter Zugang zum Binnenmarkt der EU und für den Binnenmarkt bedeutet es einen erschwerten Zugang zu Londons Finanzkapital sowie den internationalen Strukturen. Mit einer Börsenfusion kann eine Brücke zwischen Frankfurt und London errichtet werden, wodurch beide Börsen den Ablauf von Finanztransaktionen zumindest technisch erleichtern können. Möglicherweise wird der rechtliche Sitz der fusionierten Börde aber nicht mehr in London sein können.

Und was bedeutet das für die Finanzstandorte London und Frankfurt?

In Zeiten, in denen Finanztransaktionen immer komplexer – aufgrund von Produktdifferenzierung oder Regulierung – werden, hängt Londons Relevanz vor allem an der Verfügbarkeit von Humankapital. Der Brexit bringt einen Verlust an Arbeitnehmerfreizügigkeit mit sich und kann sich so auf Londons Wettbewerbsfähigkeit aus-wirken. Wenn ausländische Banken London verlassen, werden sie sich Frankfurt zuwenden. Frankfurt ist nach London das wichtigste Finanzzentrum für den EU-Binnenmarkt und zudem Sitz der EZB.

Mehr zum Thema

Artikel lesen
„Unternehmen in der Bürokratiefalle?”
Sandra Parthie Veranstaltung 6. Dezember 2023

Runder Tisch: „Unternehmen in der Bürokratiefalle?”

Der Bürokratieabbau ist zurück auf der politischen Agenda. In ihrer "State of the European Union"-Rede, erklärte ihn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jüngst zur Chefsache. Entlastungen für den Mittelstand waren bereits Thema ihrer Rede im letzten ...

IW

Artikel lesen
Henrik Förster / Thomas Obst IW-Kurzbericht Nr. 86 1. Dezember 2023

Wachstumskosten der restriktiven Geldpolitik in Deutschland

Mit einem rasanten Anstieg des Leitzinses auf 4,5 Prozent ist die Europäische Zentralbank (EZB) entschieden gegen die historisch hohe Inflation im Euroraum vorgegangen. Zeitgleich hat die restriktive Geldpolitik zu einer deutlichen Dämpfung der Wirtschaft ...

IW

Mehr zum Thema

Inhaltselement mit der ID 8880