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(© Foto: Dennis Straßmeier)
Michael Hüther in der Zeitschrift Versicherungswirtschaft Interview 1. Dezember 2015

"Die Warnzeichen blinken stärker"

IW-Direktor Michael Hüther spricht im Interview mit der Zeitschrift Versicherungswirtschaft über die Stärken und die Anpassungsfähigkeit deutscher Unternehmen.

Kurz vor Jahresultimo 2015 eine Delle im Wirtschaftswachstum: Nur eine Schrecksekunde oder ein Menetekel für das kommende Jahr?

Die Wachstumsflaute zu Jahresende ist nicht zu unterschätzen. Zwar läuft die Weltwirtschaft – und insbesondere China – schon seit längerem nicht mehr so rund wie gewohnt, eine global rückläufige Investitionstätigkeit ist jedoch ein Novum. Das dürfte uns länger beschäftigen. Entwicklungs- und Schwellenländern sind die Rohstoffeinnahmen weggebrochen und Europa kämpft immer noch mit sich selbst, wenngleich die Reformanstrengungen zunehmend deutlicher Erträge abwerfen. Diese Unsicherheit spiegelt sich in den niedrigen Investitionsquoten der verschiedenen Wirtschaftsregionen wider. Für die auf den Handel mit Investitionsgütern ausgerichtete deutsche Wirtschaft ist das langfristig problematisch.

Über welche hausgemachten Stärken verfügt die deutsche Wirtschaft, gut gewappnet in das Risikogelände 2016 voranzuschreiten?

Die Stärke der deutschen Wirtschaft liegt in ihrer dezentral organisierten Technologieführerschaft. Gerade im verarbeitenden Gewerbe mischt der deutsche Mittelstand auf dem Weltmarkt für hoch-technisierte Güter mit – allein zwei Drittel der Weltmarktführer sind hierzulande zu Hause. Qualität und nicht Quantität – Technologieführerschaft und nicht Preisdumping – ist das Erfolgsmodell der vielen klein- und mittelständischen Unternehmen. Dabei können die Unternehmer auf hervorragend ausgebildete Arbeitskräfte zurückgreifen. Der Erfolg gibt dem deutschen Geschäftsmodell recht: Schließlich legt Deutschland auch in einem schwierigen internationalen Umfeld bei Exporten weiter zu.

Und was sind die hausgemachten Anfälligkeiten für eine nachlassende Konstitution im globalen Wettbewerb?

Deutsche Produkte und Dienstleistungen werden im internationalen Vergleich zunehmend teurer. Insbesondere im Jahr 2015 haben verschiedene hausgemachte Belastungen – wie Mindestlohn, Mütterrente und Rente mit 63 – ihre Wirkung entfaltet, und zwar bei wieder deutlich steigenden Lohnstückkosten. In einem weniger dynamischen internationalen Umfeld begründen zusätzliche Kosten und Hemmnisse für die exportorientierte deutsche Wirtschaft im kommenden Jahr erhebliche Bremskräfte.

Völlig offen bleiben zudem die gesellschaftlichen und ökonomischen Implikationen der Flüchtlingszuwanderung. Diese trifft die deutsche und europäische Politik weitgehend unvorbereitet und kristallisiert sich bereits in den ersten Monaten als deutliche Überforderung der vorhandenen Strukturen heraus. Dabei sind die akuten logistischen Herausforderungen lediglich ein erster Schritt. Wesentlich schwieriger wird die langfristige gesellschaftliche Akzeptanz der Zuwanderung. Zwar bestehen große Potenziale durch Ausbildung, Weiterbildung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt, doch ist dies mit hohen Kosten verbunden. Vor allem aber braucht es Zeit. Die Erfahrung der bisherigen Flüchtlinge zeigt, dass nach fünf Jahren rund die Hälfte erwerbstätig ist.

Summa summarum: Wie definieren Sie die Ziellinie für Wachstum und Stabilität 2016?

Für das Jahr 2016 prognostiziert das Institut der deutschen Wirtschaft ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,5 Prozent. Damit wird für das kommende Jahr auch in Deutschland wieder kein Höhenflug erwartet, zeitweise ist es im Verlauf des Jahres eher ein Sinkflug. Bedenkt man, dass das Erbe aus 2015 durchaus kräftig ist und zudem die Mehrausgaben für Flüchtlinge rein technisch einen Impuls von 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verursachen, dann zeigt das, wie sehr 2016 durch einen Verlust an Dynamik geprägt ist. Für die mäßige Dynamik sorgt insbesondere die hohe institutionelle Unisicherheit – und das global: Die ständigen Krisen bieten den Wirtschaftsakteuren nur wenig Luft – das wiederum hemmt langfristige Investitionen und Exporte. Optimismus kommt lediglich weiter aus der Ecke der Konsumausgaben.

Wie können, wie sollen sich Unternehmen – große und nicht so große – für Unvorhergesehenes – wie internationale politische Krisen – wappnen? Eine Agenda der Eventualitäten und Optionen aufstellen? Wer oder was hilft dabei?

Die deutschen Unternehmen haben sich in der Vergangenheit durch eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit ausgezeichnet. Terrorangriffe kann ein Unternehmen ebenso wenig vorhersagen wie das Ausmaß der Wachstumsflaute in den Schwellenländern oder Konflikte im Fortgang der europäischen Staatsschuldenkrise. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Unternehmensentscheidungen blauäugig und ohne Gespür für die so genannten „schwarzen Schwäne“, die hohen Risiken mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, getroffen werden sollten. Kluge unternehmerische Entscheidungen fassen immer auch ein massives Negativszenario ins Auge. Das Unternehmen muss dann verkraften können, dass Anlagen abgeschrieben oder Fabriken mit Verlust verkauft werden müssen. Alles auf eine Karte zu setzen, ist selten eine gute Strategie.

Einen beträchtlichen Unwägbarkeitsfaktor, besonders für stark regulierte Branchen, stellen politische Weichenstellungen aus Brüssel oder Berlin dar. Welche Belastungen, welche Verbesserungen der Rahmenbedingungen stehen auf der Agenda?

Handelsbarrieren und Regulierung stellen die klassischen hausgemachten Bremsklötze der Wirtschaft dar. In Deutschland wurden seit der Regierungsbildung vor zwei Jahren eine Reihe ökonomisch fragwürdiger Vorhaben verabschiedet. Es bleibt die Hoffnung, dass in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode statt dessen die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze im Mittelpunkt steht. Abwägbare Belastungen gibt es genug: steigende Kosten aus der planlosen Energiewende sind ein Beispiel von politischer Fehlkalkulation, die seit Jahren durchgeschleppt wird.

Auf europäischer Ebene wird die EU-Kommission ihre neue Binnenmarktstrategie vorstellen. Die zuständige Kommissarin hat bisher so wenige Impulse eingebracht, dass man tatsächlich neugierig wird, woran solange gearbeitet wurde. Mut machen hingegen die Pläne zum digitalen Binnenmarkt, die Kommissar Oettinger verfolgt. Das gilt ebenso für die Kapitalmarktunion. Die bietet die Möglichkeit, die Regulierungswelle seit der Finanzkrise auf unerwünschte Effekte zu prüfen und den Rahmen für die Märkte wie die Finanzinstitutionen gesamthaft zu entwickeln. Große Potenziale bietet das vieldiskutierte Freihandelsankommen TTIP. Bei erfolgreichem Abschluss werden deutsche Unternehmen signifikant von wegfallenden Zöllen und Steuern profitieren und auf dem Weltmarkt weitere Marktanteile gewinnen.

Europa samt destabilisiertem Euroraum insgesamt steht unter dem Wettbewerbsdruck der globalen Dreiecksdrift Asien, Amerika, Schwellenländer. Wie wird sich die europäische Wirtschaft samt Deutschland inmitten behaupten?

Krise der europäischen Staatlichkeit, Wachstumsbaisse in China, Korruptionsskandale in Brasilien und ein Wahljahr in den USA – langweilig wird es im kommenden Jahr nicht werden. Die europäische Wirtschaft kann sich in diesem schwierigen Kontext behaupten, nachdem die Reformen in den Krisenländern wieder zu Wirtschaftswachstum führen und damit die ökonomische Robustheit in Europa zunimmt. Für Europas Wettbewerbsfähigkeit spricht der ausgesprochen vorteilhafte Wechselkurs, der europäische Produkte auf dem internationalen Markt attraktiv macht. Ob die deutsche Wirtschaft auch im kommenden Jahr abgesehen von Wechselkurseffekten Rückenwind bekommt, hängt noch an einem besonderen Thema. Die mögliche Gefährdung der Marke „made in Germany“ durch den VW-Abgasskandal. Nur wenn das damit elementar verbundene Governance-Problem transparent aufgearbeitet und falsche Anreizstrukturen nachhaltig beseitigt werden, kann die deutsche Wirtschaft auch in Zukunft auf diesen spezifischen Wettbewerbsvorteil bauen.

Der Investitionsschwäche europaweit und der Investitionslücken auch in Deutschland will man mit großen Investitionsprogrammen besonders in Richtung Infrastruktur beikommen. Nun wird zum Beispiel seitens der Versicherungswirtschaft nach den ganzen Ankündigungen öffentlich-privater Projekte festgestellt: „Die Pipeline ist leer“. Wann wird 2016 was laufen?

Staatlich gelenkte Investitionsprogramme haben in Zeiten der Investitionsschwäche Hochkonjunktur. Letztlich stellen sie aber einen kurzzeitigen Lösungsansatz für ein langfristiges, strukturelles Problem dar. Dabei ist eigentlich klar: Genügend Mittel sind ohnehin vorhanden – es mangelt an attraktiven Investitionsprojekten. Die Pipeline privater Projekte ist tatsächlich leer, daran ändert sich auch nichts, wenn der Staat Investitionsrisiken übernimmt. Anders sieht dies bei den öffentlichen Investitionen aus. Hier fehlen aber häufig der Wille und die entsprechenden Rahmenbedingungen, um privates Kapital wirkungsvoll einzubinden.

Hinzu kommt, dass wir mit der breiten Digitalisierung vor einer vierten Industriellen Revolution stehen, die sich von strukturellen Umbrüchen der Vergangenheit in einem entscheidenden Punkt unterscheiden könnte: Sie ist für Anwender nicht sonderlich kapitalintensiv – vielleicht sogar kapital-sparend. Viel Kapitalangebot und wenige konkrete Investitionsprojekte könnten die kommenden Jahre prägen.

Wie sehen Sie den Zusammenhang und die Wechselwirkungen von Realwirtschaft (Industrie) sowie Finanz- und Dienstleistungswirtschaft im digitalen Wandel? Wer schubst wen konjunkturell und innovativ?

Der digitale Wandel wirkt im Zusammenspiel von Industrie und Dienstleistungswirtschaft wie ein Katalysator. Für die Bedeutung des Vorleistungsverbunds von Industrie-Dienstleistungen birgt das großes Potentiale auf bereits hohem Niveau: Denn der Anteil der gemeinsamen Wertschöpfung von Industrie und Dienstleistungen an Deutschlands gesamter Wertschöpfung betrug bereits 2011 fast zehn Prozent – einer der weltweiten Spitzenwerte. Der automatisierte Datenaustausch – ein elementarer Bestandteil von Industrie 4.0 – wird die unterschiedlichen Wirtschaftssektoren weiter verschmelzen lassen und die Kunden einbinden. Das ist auf Innovationen aus dem IT-Sektor zurückzuführen, die durch verbesserte Infrastruktur erlauben, auch extrem große Datenmengen – sogenannte „Big Data“ – in Echtzeit zu verarbeiten.

Über allen Überlegungen und Ausblicken am Ende dieses Jahres schwebt die Lösungssuche in der Flüchtlingsfrage. Von unserer Seite nur die Kurzfrage: Schaffen wir das – und in welchen Zeiträumen?

Die starke Zuwanderung von Flüchtlingen betrifft Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sie stellt für alle gleichermaßen eine große Herausforderung dar. Die Mobilisierung der darin liegenden Chancen ist kein Selbst­läufer, sondern anstrengend und mit Konflikten verbunden. Das stellt die humanitäre Entscheidung nicht in Frage, sondern plädiert für Realismus. Finanziell ist angesichts der guten Lage in den öffentlichen Haushalten eine Zuwanderung von über einer Million Flüchtlingen zu verkraften. Auch wenn das Qualifikationsniveau – nur 20 Prozent haben eine berufliche Ausbildung – und damit die Chancen auf Integration in den Arbeitsmarkt kurzfristig verhältnismäßig niedrig sind, so können die Flüchtlinge wegen der sehr günstigen Altersstruktur langfristig einen wichtigen Teil der Arbeitnehmer in Deutschland darstellen.

Früher waren die Flüchtlinge von Integrationsmaßnahmen ausgenommen, sie sollten gerade nicht integriert werden. Man ging davon aus, dass ihr Aufenthalt nur kurz währt. Hier hat sich Grundlegendes geändert. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft setzen auf frühe und weitgehende Integration. Herausragend ist das spontane zivilgesellschaftliche Engagement – dadurch hat sich die Gesellschaft bereits verändert.

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