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Dominik Enste, Leiter des Kompetenzfelds Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik
Dominik Enste im Tagesspiegel Interview 24. März 2020

Ethische Fragen in der Corona-Krise: Geht Gesundheit immer vor?

Mit dem Shutdown werden massive ökonomische Folgen in Kauf genommen. IW-Wirtschaftsethiker Dominik Enste spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über eine schwierige Abwägung.

Herr Enste, in der Coronakrise hat sich die Politik für einen Shutdown entschieden, der massive ökonomische Folgen in Kauf nimmt. Geht Gesundheit immer vor?

Im Moment wird Gesundheit über alles gestellt. Herr Söder und andere sagen: Es geht um Leben oder Tod – da müssen wir alles tun, koste es was es wolle. Das ist als erste Reaktion nachvollziehbar. Aber tatsächlich kennt die Wirtschaftsethik schon sehr lange das Problem der Abwägung zwischen Kosten und Nutzen, auch dann, wenn es um Menschenleben geht.

Mit welchem Ergebnis?

Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus. In Deutschland stehen wir stark in der Tradition von Immanuel Kant und des ersten Verfassungsartikels: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Daraus folgert man, dass wir nie Menschenleben gegeneinander abwägen dürfen. Darin steckt aber auch ein Stück Realitätsverweigerung. In Großbritannien mit seiner utilitaristischen Denktradition wird das Problem völlig anders angegangen. Die Briten haben klar festgelegt, was die Verlängerung eines Lebens mit guter Lebensqualität um ein Jahr kosten darf: 30 000 Pfund, in Ausnahmen bis 70 000 oder 80 000 Pfund.

Das klingt brutal. Wie rechtfertigt man solche Entscheidungen?

Der Utilitarist sagt: Das Glück der größten Zahl geht über das des Einzelnen – oder, wenn Sie so wollen: Solidarität hat – finanzielle – Grenzen. Den Unterschied kann man gut mit dem Trolley-Experiment illustrieren. Nehmen Sie an, ein Bahnwaggon rast auf eine Weiche zu. Lässt man ihn rollen, tötet er fünf Menschen – legt man die Weiche um, überfährt er einen Menschen. Die utilitaristische Lösung hieße „Weiche umlegen“. Die Kantsche Sicht sagt, dass kein Mensch wie ein Ding behandelt und abgezählt werden darf. Aber das Dilemma ist ja, dass auch dann Menschen sterben, wenn ich die Weiche nicht anrühre.

Donald Trump warnt, ein schwerer Wirtschaftseinbruch könne mehr Leben kosten als die Pandemie – nur „Trumpism“ oder eine berechtigte Sorge?

Auch die USA kommen von der utilitaristischen Nutzentheorie her. Dazu passt Trumps Aussage. De facto müssen aber auch wir uns diese Frage stellen: Wie viele Menschenleben gefährdet ein langer Stillstand, etwa durch die Zunahme häuslicher Gewalt? Wie schwer wiegen auch für den Einzelnen die ökonomischen Folgen?

Kennt die Ethik Verfahren oder Kriterien für die Abwägung zwischen Übeln?

Leider gibt es keine simplen Rezepte. Aber um das Extrem zu nehmen: Die Frage ist ethisch legitim, ob in Situationen wie in Italien ein älterer Mensch mit Vorerkrankungen in jedem Fall auf die Intensivstation gebracht werden sollte, auch wenn er dort wahrscheinlich einsam sterben wird, – oder ob es nicht humaner wäre, ihn daheim sterben zu lassen. Um solche Fragen drücken wir uns in Deutschland herum, weil wir auf unser gutes Gesundheitssystem vertrauen.

 Ist es ethisch in Ordnung, dass in Frankreich Firmen Prämien ausloben, damit Mitarbeiter wieder zur Arbeit kommen?

Ich halte das für falsch. Das sollten nicht einzelne Unternehmen entscheiden. Wir brauchen klare Regeln auf der staatlichen Ordnungsebene. Notwendig wäre eine ehrliche Debatte über die Kosten der Corona-Bekämpfung. Das ifo-Institut hat errechnet, dass drei Monate Shutdown bis zu 700 Milliarden Euro Ausfall bedeuten würden. Das lässt sich nicht nachholen und hätte auch Folgen zum Beispiel für das Gesundheitssystem nach der Krise. Ich fände einen Runden Tisch mit Experten vieler Fachrichtungen angebracht. Wir brauchen eine offene Diskussion. Und wir dürfen nicht Populisten die Antwort auf ethische Fragen überlassen, die ja schon versuchen, das Thema an sich zu reißen.

Zum Interview auf tagesspiegel.de.

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