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Michael Hüther und Michael Kretschmer in der Welt am Sonntag Interview 26. August 2019

Regionalstudie: „Die Politik darf keine Regionen abschreiben“

Bundesweit kämpfen Regionen gegen den wirtschaftlichen Verfall, vor allem im Osten. Wie lässt ich gegensteuern? Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und der IW-Direktor Michael Hüther warnen im Interview mit der Welt am Sonntag vor Klischees im Wahlkampf.

Michael Kretschmer steht unter Strom. In der letzten Woche vor der Landtagswahl kämpft der Ministerpräsident von Sachsen um Wählerstimmen. Es geht um viel; zeitweise drohte die AfD stärkste Kraft zu werden. An besonders intensiven Wahlkampftagen schüttelt Kretschmer auch mal 300 Menschen die Hand. Ein Thema, um das es in den Gesprächen immer wieder geht: Die aktuelle Diskussion, dass viele ostdeutsche Regionen den Anschluss verlieren könnten. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), hat diese Debatte mit befeuert. In einer großen Studie warnte sein Institut jüngst vor dem Verfall jeder fünften Region. WELT AM SONNTAG hat Hüther in Berlin zum Gespräch getroffen – und Michael Kretschmer war per Video aus Dresden zugeschaltet.

WELT AM SONNTAG: Herr Hüther, das IW warnt, dass jede fünfte Region wirtschaftlich den Anschluss verliert. Die Trennlinien verlaufen längst nicht mehr nur zwischen Ost und West. Führen wir die falsche Debatte?

MICHAEL HÜTHER: Wir haben uns daran gewöhnt, in Ost-West-Gegensätzen zu denken, aber die wirtschaftliche Realität hierzulande ist viel komplexer. Vom Verfall betroffene Regionen sind über das ganze Land verstreut und haben unterschiedliche Probleme zu bewältigen. Das Ruhrgebiet oder das Saarland beispielsweise kämpfen seit Jahrzehnten mit einem schlecht bewältigten Strukturwandel. In einigen Gebieten in Ostdeutschland hingegen altert und schrumpft die Bevölkerung sehr stark, was die wirtschaftliche Entwicklung dort beeinträchtigt.

Sie sagen, die Probleme in Ruhrgebiet und Saarland gibt es seit Jahrzehnten. Warum geht dort nichts voran?

HÜTHER: Beide Regionen haben ein rund 60 Jahre zurückreichendes Problem. Das Saarland ist 1957 der Bundesrepublik zu den falschen ökonomischen Bedingungen beigetreten. Und es hat im Grunde drei Jahrzehnte gedauert, das wieder auszugleichen. Im Ruhrgebiet hat die Kohlekrise schon 1958 begonnen, aber erst 2018 wurde der letzte Steinkohle-Schacht geschlossen. Die Politik hat dort über viele Jahrzehnte die Kohleförderung mit Milliardensubventionen erhalten und viel zu spät begonnen, stattdessen etwas Neues aufzubauen. Dabei braucht erfolgreicher Strukturwandel einen langen Atem, das dauert.

Elf der 19 Problemregionen, die das IW identifiziert hat, liegen im Osten, zwei in Sachsen, nämlich die Oberlausitz und Südsachsen. Welche Möglichkeiten hat ein Ministerpräsident, gegenzusteuern, um die Fehler zu vermeiden, die im Ruhrgebiet und im Saarland gemacht wurden, Herr Kretschmer?

MICHAEL KRETSCHMER: Wir sollten aufhören, alle Regionen über einen Kamm zu scheren, sondern ganz bewusst an den jeweiligen Orten die Potenziale fördern, die da sind. Die Aufgabe der Politik ist es dabei, für eine gute und funktionierende Infrastruktur zu sorgen. Wir müssen die Regionen, die bisher nicht ausreichend erschlossen sind, zügig in die Verkehrsnetze bringen. Vor allem brauchen wir künftig viel mehr öffentlichen Personennahverkehr, damit das Land als Wohnraum wieder attraktiv wird. Junge Leute sind bereit, in Sachsen aufs Land zu ziehen, aber nur, wenn sie mit der S-Bahn nach Dresden, Chemnitz oder Leipzig pendeln können. Für den Klimaschutz ist es wichtig, in Infrastruktur zu investieren, damit Menschen Alternativen zum Auto haben. Das ist viel besser, als den Bürgern immer wieder mit neuen Steuern und Verboten zu drohen.

Aufgabe des Staates ist also Infrastruktur und damit basta?

KRETSCHMER: Infrastruktur, Breitbandausbau und Wissenschaft, darum kann der Staat sich kümmern. Ebenso können wir die Ansiedlung von Unternehmen fördern und unterstützen. Aber dafür ist ein langer Atem nötig. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Sachsen hat im Jahr 2001 erkannt, dass das Bundesland bei der Biotechnologie wenig zu bieten hat. Damals wurden jeweils 200 Millionen DMark in Leipzig und Dresden investiert, um dort eine Biotech-Industrie anzusiedeln. Heute, 18 Jahre später, haben wird dort ganz viele Start-ups in diesem Bereich. Aber dafür waren beinahe zwei Jahrzehnte nötig.

HÜTHER: Und wir brauchen überall schnelle Netze und flächendeckend ultraschnelles Breitband. Das wird künftig zur Daseinsvorsorge gehören.

Offensichtlich sind wir von den gleichwertigen Lebensverhältnissen, die im Grundgesetz postuliert werden, weit entfernt. Ein Stück weit ist das auch natürlich. Es wird immer Unterschiede beim Einkommen und bei der Wertschöpfung geben. Sollte die Politik das nicht ehrlich zugeben?

KRETSCHMER: Ganz grundsätzlich: Gleichwertige Lebensverhältnisse haben hierzulande Verfassungsrang, und wir haben überall in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse. Die messen wir nicht am individuellen Einkommen, sondern am Zugang zu Bildung, zu Kindergärten, zur gesundheitlichen Versorgung und an Umweltstandards, die überall gleich gelten. Was wir machen müssen, ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vieler Regionen zu verbessern, und da kommen wir voran. Die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland hat sich in den vergangenen fünf bis zehn Jahren dramatisch verbessert. Wir brauchen beispielsweise jetzt in allen Regionen in Sachsen Fachkräftezuwanderung aus dem Ausland, so gut geht es der Wirtschaft.

HÜTHER: Man muss die Situation in Ostdeutschland wirklich differenziert betrachten. Seit 2011 ziehen mehr Menschen nach Sachsen als das Bundesland verlassen, das gleiche Muster beobachten wir in Mecklenburg-Vorpommern seit 2015. Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland liegt mittlerweile deutlich unter sieben Prozent. Gemessen daran, wo wir herkommen, ging der wirtschaftliche Aufholprozess in Ostdeutschland beachtlich schnell.

Trotzdem kämpfen viele Regionen im Osten mit der demografischen Entwicklung: Großstädte boomen, aber auf dem Land droht Überalterung, und es fehlen Fachkräfte. Wie wollen Sie Leute aufs Land locken?  

KRETSCHMER: Der Befund ist ja nicht neu. In diesem Jahr gehen beispielsweise doppelt so viele Menschen in Sachsen in Rente wie ins Erwerbsleben einsteigen. Es mag Regionen geben, die sind schicksalsergeben und lassen das einfach passieren, aber das ist keine Lösung. Und es tut sich was. Rings um die großen Metropolen ziehen junge Leute raus aufs Land, weil die Grundstücke dort bezahlbar sind und junge Familien sich da noch ein Eigenheim leisten können. Und ich erlebe, wie Zeitarbeitsfirmen ausländische Arbeitskräfte in die Regionen bringen, Fachkräfte aus Polen oder der Ukraine beispielsweise. Gestern war ich in einer Firma, die beschäftigt viele junge Leute aus Bosnien. Das ist für Ostdeutsche gewöhnungsbedürftig, schließlich haben wir lange Zeit die Erfahrung mit hoher Arbeitslosigkeit und Abwanderung gemacht.

Können sich Problemregionen überhaupt ohne qualifizierte Zuwanderung weiterentwickeln?

HÜTHER: Nein, nur mit den eigenen Leuten geht es nicht. Das sieht jeder, der die Grundrechenarten beherrscht. Dafür sind einfach nicht genügend Menschen da.

KRETSCHMER: Deshalb ist es jetzt wichtig, dass wir in Ostdeutschland und Sachsen ein positives offenes Klima haben. In Ostdeutschland dürfen keine Extremisten das Kommando übernehmen und auch keine Politiker, die sagen, wir bräuchten keine Fachkräfte-Zuwanderung. Als Staat können wir auch einiges tun, damit es leichter für Fachkräfte aus dem Ausland wird, etwa die Anerkennung von Berufsabschlüssen vereinfachen oder mehr Unterstützung bei Deutschkursen geben. Bisher machen wir all das komplizierter als nötig.

Aber warum sollten ausländische Fachkräfte, warum sollten Pfleger, Ärzte oder Handwerker ausgerechnet in die Hochburgen der AfD ziehen?

KRETSCHMER: In Sachsen gibt es in allen Regionen ausländische Fachkräfte: Rechtsextremisten sind eine kleine bösartige Minderheit, der wir uns mit Polizei und Justiz massiv entgegenstemmen. Sachsen ist ein fröhliches, weltoffenes Land, aber das muss es auch bleiben. Dafür muss man auch auf die Fragen, die wir hier diskutieren, ehrliche und zutreffende Antworten geben.

Brauchen wir den Soli noch?

KRETSCHMER: Der Solidaritätszuschlag sollte jetzt abgeschafft werden und zwar für alle Steuerzahler. Dass sich die große Koalition in Berlin nur auf die Abschaffung für 90 Prozent der Steuerzahler einigen konnte, ist als erster Schritt aber schon viel wert.

Was von den Soli-Einnahmen wird tatsächlich im Osten ausgegeben?

KRETSCHMER: Der Soli ist ja gar nicht mehr dezidiert für die neuen Länder, sondern für den Bundeshaushalt. Davon kommt nur noch der kleinste Teil in den neuen Ländern an.

Das weiß allerdings kaum einer.

KRETSCHMER: Es weiß auch kaum einer, dass der Soli von Ost und West gemeinsam bezahlt wird. Ich finde, der Aufbau Ost ist eine unglaubliche patriotische Leistung der Menschen in Ost und West. Deshalb macht mich auch diese Diskussion wütend über die armen, benachteiligten Ostdeutschen, denen in der Wendezeit so viel Unrecht widerfahren ist. Viele sind auf ihre friedliche Revolution stolz. Die Wende ist 30 Jahre her. Hätten wir diese Diskussion 15 Jahre nach der deutschen Einheit geführt, wäre sie verständlich gewesen, denn damals haben die Menschen die Folgen noch deutlich gespürt. Aber jetzt läuft die Industrie in Ostdeutschland wieder, die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit ist niedrig und die ganzen Umweltschäden, die wir 1990 hatten, sind beseitigt. Wer diese Diskussion jetzt führt, nimmt den Menschen ein Stück weit die Würde und entwertet das, was sie durchlebt, aber auch geleistet haben.

Die Debatte geht ja so weit, dass Ökonomen empfehlen, ganze Landstriche sich selbst zu überlassen und nur noch in Städte zu investieren.

HÜTHER: Solche Konzepte sind völlig verfehlt. Natürlich sind Wachstumskerne wichtig. Aber die vielen wunderbaren Orte und Landschaften automatisch von der Entwicklung auszuschließen, das hieße zu resignieren. Damit würde die Politik doch unterstellen, dass sie dort nichts mehr ausrichten kann. Und so ist es nicht. Außerdem ist es ja auch nicht so gewesen, dass in Westdeutschland strukturschwache Regionen sich selbst überlassen wurden. Die Politik darf keine Regionen abschreiben, man kann immer handeln und gegensteuern.

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Michael Hüther / Jens Südekum / Michael Voigtländer: Die Zukunft der Regionen in Deutschland – Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit

IW-Studie

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