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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 4. Februar 2010

Wirtschaftspolitik mit weißen Stöpseln im Ohr

Eine Politik, die sich ihrer Grundlagen und Orientierungen bewusst ist gewinnt die Souveränität Fehlentscheidungen zu korrigieren

Der ungewohnt anhaltende und starke Schnee hat viele Konsequenzen. Schon sinnieren die Konjunkturauguren darüber, wie groß die Produktionseinschränkungen in einigen Branchen sein werden und wie sehr dies auf die gesamtwirtschaftliche Leistung durchschlagen wird. Klar dürfte sein, dass die übliche Saisonbereinigung dies kaum wird auffangen können. Doch wirklich bedeutsam ist es nicht, denn Saisonbewegungen ändern nichts an dem darunter liegenden Trend der wirtschaftlichen Entwicklung, der angesichts vorlaufender Indikatoren eindeutig nach oben zeigt.

Etwas anderes wird augenfällig, wenn man den öffentlichen Nahverkehr benutzt: Viele fahren zeitgemäß mit MP3-Player oder iPod zur Arbeit. Straßenbahnen, Busse und Nahverkehrszüge sind voll von Menschen, die Ohrstöpsel tragen. Die Nichtträger scheinen in der Minderzahl zu sein. Der zeitgenössische Mensch schottet sich so gegen Störungen und akustische Eindrücke der Umwelt ab, er trägt sein musikalisches Wohnzimmer stets mit sich. Mit iPod und Co. wird der Aufenthalt im öffentlichen Raum privatisiert.

Doch dabei bleibt es nicht. In der Schule wird der Stöpsel bei weitem nicht nur während der Pausen getragen, auch nicht im Unternehmen. Mitunter fragt man sich, ob die Ohrstöpsel angewachsen sind und den Zugang zur Lebenswelt nicht sogar dauerhaft verschließen. Wir tilgen den Leerlauf des Alltags, indem wir den Tagesablauf von scheinbar Überflüssigem bereinigen und jeder zufälligen oder geplanten Pause den Charakter der Zeitverschwendung nehmen. Der Preis, den wir dafür zahlen: Uns schwindet die Zeit der Gemeinsamkeit.

Nun geht dieser kulturelle Wandel offenbar an der Politik nicht vorbei, wie das Staunen über die Performance der neuen Bundesregierung auch hundert Tage nach Amtsantritt kenntlich macht. Kaum ein Politikfeld ist zu finden, wo nicht beachtliche Differenzen sichtbar werden. Die großen Reformvorhaben werden, ehe sie begonnen sind, schon zerredet. Was können wir noch erwarten für die Vereinfachung des Steuersystems, die Gestaltung des Gesundheitssystems, die Nachhaltigkeit der Konsolidierung? Man hat nicht den Eindruck, dass Gemeinsames weit trägt.

Da erhalten Themen eine politische Prominenz, die ihnen nicht zukommt. Der zwischen allen Parteien geführte Streit über den Aufkauf von Steuersünderdateien mit rechtlich zweifelhafter Herkunft steht dafür. Im Falle des Erwerbs durch die Regierung steht der Rechtsstaat nicht zur Disposition, da solches in anderen Kontexten üblich ist. Und im Falle des Nichterwerbs erleiden weder die soziale Gerechtigkeit eine Niederlage, noch wird die Haushaltskonsolidierung unmöglich. Wir sollten die politische Energie, die hier auf allen Seiten verschwendet wird, sinnvoller nutzen.

Man möchte den Akteuren zurufen: Nehmt die Stöpsel aus dem Ohr, und gönnt euch Zeit für das ruhige Gespräch! Eine Politik, die sich ihrer Grundlagen und Orientierungen bewusst ist, gewinnt die Souveränität, Fehlentscheidungen zu korrigieren. Die Umsatzsteuerregelung für Hotelübernachtungen beispielsweise ruft danach. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass wir es hier nicht mit einem Umsetzungsproblem zu tun haben. Die Neuregelung war schon im Ansatz verfehlt; sie verhöhnt die Ziele Steuervereinfachung und Bürokratieabbau, denen sich die Regierung verpflichtet hat. Wie kann man die Erstarrung von Politik erklären, die schon am Beginn einer Legislaturperiode für alternativlos erklärt wird? Sicher muss Politik entscheiden und die gefundenen Lösungen konsequent umsetzen. Doch geht dies nur gut, wenn die Entscheidungsfindung breit verankert ist und nicht von iPod-Trägern dominiert wird. Der Tunnelblick einer scheinbar reibungslosen Beschleunigung, die von der Enge in Raum und Zeit zu befreien scheint, schließt gerade das Denken in Alternativen aus. Die Erörterung alternativer Lösungswege lebt aber davon, dass man das Zwielicht unklarer Problemlösungen nicht scheut.

Doch können wir der Politik jenen Mangel vorwerfen, den wir alle bereit sind, im gesellschaftlichen Miteinander zu organisieren? Die alltägliche Überdehnung der Privatheit, abgeschottet mit Ohrstöpseln, ist keine gute Basis für die Ermittlung des Gemeinsamen, für die Feststellung dessen, was uns bedeutsam ist. Vielleicht liegt ja das Gute an der Umsatzsteuerregelung für Hotelübernachtungen darin, dass wir so darauf gestoßen werden. Nicht nur in Zeiten knapper öffentlicher Haushalte ist uns offenkundiger Unsinn keine Milliarde Euro wert. Es sollte für eine Regierung kein Problem sein, sich zu korrigieren. Nehmen wir dies als Anlass zum ruhigen, offenen Gespräch.

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