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Michael Hüther Gastbeitrag 11. Oktober 2007

Wir vergeuden unsere Potenziale

Der Wohlstand wird sinken, wenn wir die Bildung der Jungen und die Integration der Älteren nicht abgestimmt fördern.

Deutschland ist wirtschaftlich vorangekommen. Das wurde an dieser Stelle bereits aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert. Ebenso die harzige Leidenschaft der Deutschen, im Negativitätswahn zu verharren. Populistische Politik ist offenbar sehr effektiv: Sie greift zu fragwürdigen Parolen, weil ihr. entweder der Mut zur eigenen, wenn auch unpopulären Leistung fehlt oder weil sie aus Taktik und wider besseres Wissen den Verteilungsstreit fördert.

Dabei gibt es durchaus seriösen Anlass zur Sorge. Dies freilich nicht dort, wo die Politik derzeit ihren Tanz um das goldene Kalb der sozialen Gerechtigkeit aufführt. Es geht um Verwerfungen, die große Bedeutung haben: weil sie lange wirken werden und nur begrenzt zu revidieren sind. Dies lässt sich unter der Überschrift "Nicht ausgeschöpfte Potenziale" zusammenfassen. Gemeint sind die Leistungspotenziale unserer Gesellschaft, die bei einem pfleglichen und verantwortlichen Umgang mit den Menschen genutzt werden könnten, den jüngeren wie den älteren.

Wir laufen Gefahr, Ziele zu verfehlen oder viel zu spät zu erreichen, obwohl sie richtig formuliert sind. Das betrifft größere Bildungschancen für die Jungen und eine bessere Integration Älterer in das Erwerbsleben. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Wir finden sie in den verschiedenen verantwortlichen Institutionen und ihren Akteuren. Sie sind aber auch in einem Mangel an einer umfassenden politischen Verantwortung zu suchen. Wir müssen lernen, schon die Fragen richtig zu stellen, die sich aus dem demografischen Wandel ergeben, und richtig heißt: konsistent und im Kontext.

Kennzeichnend für die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland ist, dass Schrumpfung und Alterung mit besonderer Schärfe zusammentreffen. Deshalb muss es aber nicht zur Apokalypse kommen. Es führt aber kein Weg an der Einsicht vorbei, dass ohne schlüssiges Handeln unser Wohlstand leiden wird, weil unweigerlich die gesamtwirtschaftliche Produktivität abnimmt. Sinkende Geburtenzahlen und steigende Lebenserwartung stehen hinter dieser Herausforderung. Sie betreffen vor allem die Familienpolitik und die Bildungspolitik.

In einer Gesellschaft des immer längeren Lebens muss die Familienpolitik in eine umfassende Politik der Lebenslagen überführt werden. Das Bundesfamilienministerium geht diesen Weg, wenngleich er öffentlich noch unzureichend reflektiert wird. Es dominiert die Sicht der einzelnen Lebensphasen: hier die Jungen, dort die Eltern mit Kindern und schließlich die Älteren. Die bessere Einbindung älterer Menschen wird nicht gelingen, wenn man die veränderten Lebensbedingungen der Jüngeren nicht bedenkt. Das zu tun wäre der Kern eines neuen wohlverstandenen Generationenvertrags.

Noch ist unklar, wie die Unternehmen personalpolitisch den Weg von einer situativ gruppenbezogenen hin zu einer am Lebenszyklus orientierten Strategie finden. So scheitert nicht selten der Wunsch nach der Beschäftigung älterer Menschen an der betrieblichen Wirklichkeit.

Die attraktive Frühverrentung und an das Alter gebundene Lohnprofile haben zusammen mit Leistungserwartungen, die offenbar mit zunehmendem Alter der Mitarbeiter abflachten, diese Situation heraufbeschworen. Die in der Gerontologie vor über 20 Jahren aufgegebene These von den Defiziten des Alters wirkt in den Unternehmen bis heute nach. Doch lässt aktuell der Druck veränderter Umstände hoffen, dass sich dies ändert. Ein zunehmend spürbarer Fachkräftemangel hat erste Reaktionen gezeitigt.

Ein Umdenken begünstigt auch die Tatsache, dass der systematische Verzicht auf Erfahrungswissen fatale Wirkungen für den Geschäftserfolg haben kann. Unter anderem viele Banken machten zu Beginn dieses Jahrzehnts Erfahrungen damit, nachdem sie den Vorruhestand gefördert hatten. Die Politik kann diesen Prozess sehr einfach unterstützen, indem sie ihren mit der Agenda 2010 und den Rentenreformen eingeschlagenen Weg beharrlich weitergeht.

Diffiziler ist die Lage in der Bildungspolitik. Die Vorgaben sind unstrittig. Doch es hapert, wenn es darum geht, beispielsweise die Verkürzung der Schulzeit im Gymnasium auf acht Jahre in die Praxis umzusetzen. Die unzureichende Entschlackung der Lehrpläne hat uns den Ganztagsunterricht beschert, ohne dass es vollwertige Ganztagsschulen gäbe.

Die Folgen sind bereits jetzt greifbar. Dies auch deshalb, weil bei gleich großen Klassen und unverändertem Lehrdeputat individuelle Förderung kaum zu leisten ist. Die Noten werden deutlich schlechter, die Rückverweisungen an Real- und Hauptschulen werden steigen.

Leichtsinnig gefährden wir die Potenziale dieser Schülerjahrgänge an den Gymnasien. Messen werden wir es erst in sechs oder sieben Jahren, wenn die Hochschulzugangsberechtigung testiert wird. Wir vermissen in der Bildungspolitik schmerzlich eine kraftvolle Stimme des Bundes, die den Beitrag der Länder einfordert und auf deren Verpflichtungen hinweist.

Die zerklüftete Verantwortung führt zu Ergebnissen, die nicht zukunftsfähig sind. In der Gesellschaft des immer längeren Lebens muss die Bildung auf den ganzen Lebensverlauf differenziert zugeschnitten werden. Wer am Anfang versagt, wird später kaum erfolgreich sein können.

Wollen wir nicht sehenden Auges die Potenziale unserer Gesellschaft vergeuden und ihre Prosperität gefährden, dann müssen wir die Folgen des demografischen Wandels konsistent beantworten. Lebenslagenpolitik und Bildungspolitik müssen aufeinander abgestimmt sein und den Rahmen für die schulische und die betriebliche Anpassung setzen. Ohne wirksame Bundeskompetenz wird dies nicht gelingen. Oder wir verbrauchen dafür viel Zeit, die wir nicht haben.

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