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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 18. Februar 2010

Wir brauchen Respekt im Zeitalter der Ungleichheit

Die Möglichkeit als Transferempfänger von anderen Respekt zu erfahren, lebt davon, dass autonome Entscheidungen möglich sind.

Mal wieder ist die Aufregung groß. Der Hinweis auf Selbstverständliches ruft in der Sozialpolitik erwartungstreu Empörung hervor und wird schnell zum Skandal erklärt. Gemeint sind die Äußerungen des FDP-Vorsitzenden zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Ermittlung der Regelsätze beim Arbeitslosengeld II (ALG II). Die Betonung von Konstruktionsprinzipien unseres Sozialstaates - Subsidiarität und Lohnabstand - sollte freilich nicht zum Aufreger taugen, sieht man von Westerwelles Wahl der Worte und dem fragwürdigen historischen Bezug einmal ab.

Vermutlich signalisiert die öffentliche Reaktion aber etwas ganz anderes: In der Gesellschaft sitzt das Unwohlsein über eine Situation, die geprägt ist von einer seit Jahrzehnten dominierend an Geldleistungen orientierten Sozialstaatsphilosophie, besonders tief. Die großen Versprechen auf Integration und Teilhabe haben die Regierenden nicht erfüllt. Dazu kommt die schleichende Wahrnehmung, dass die Grundsatzfrage nach Ziel und Maß des Sozialstaats nicht mehr gestellt wird.

Der Soziologe Richard Sennett hat sich diesen Fragen lehrreich in seinem Buch „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ gewidmet. Von eigener Erfahrung und Anschauung getragen, stellt er die Kategorie Respekt in den Mittelpunkt der Überlegungen. Respekt bedeute, dass man als Mensch angesehen werde, dessen Anwesenheit etwas zähle. Er schließt die Frage an, wie man die durch Ungleichheit gesetzten sozialen Grenzen durch wechselseitigen Respekt überschreiten kann, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern. Die modernen Antworten der Sozialpolitik liefen Gefahr, das Gegenteil auszulösen und Abhängigkeiten neuer Art zu schaffen - sei es durch umfangreiche Versicherungspflichten, detailgeregelte Sozialleistungen oder intervenierende Sozialarbeit.

Die Befähigung, in der modernen Gesellschaft den Respekt der anderen zu gewinnen, werde über drei Wege maßgeblich beeinflusst: erstens über die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Die Nutzung der Talente und die Aneignung von Kompetenzen begründe soziale Wertschätzung. Zweitens durch die autonome Sorge um sich selbst, so dass man den anderen nicht zur Last fällt. Drittens durch das Bestreben, etwas an die Gemeinschaft zurückzugeben. Erst dadurch werde das Miteinander verhaltensprägend und der soziale Austauschgeübt.

Dieser Dreiklang adressiert die sozialpolitische Bedeutung der Bildung, und zwar ebenso durch die Vermittlung von Kompetenzen wie durch die Sozialisation, die Befähigung zur Selbststeuerung sowie zur Einbindung in die politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Sennett betont, wie die Versuche der modernen Sozialreform, Bedürftigkeit und Abhängigkeit des Menschen zu verringern, zu einer Ausweitung des Sozialstaates geführt haben. Umso wichtiger sei es, dass der Bürger dadurch nicht zum „Zuschauer seiner eigenen Bedürfnisse werde“.

Das Verfassungsgerichtsurteil, das im Übrigen keinerlei Aufforderung zu einer Anhebung der Regelsätze nach Hartz IV darstellt, beleuchtet mit dem Hinweis auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums den von Sennett entfalteten Kontext. Würde verweist auf Respekt trotz Not und Abhängigkeit. Respekt wiederum beruht auf der Autonomie, die dem Einzelnen belassen wird. Denn die Möglichkeit, als Transferempfänger von anderen Respekt zu erfahren, lebt davon, dass autonome Entscheidungen möglich sind und Verantwortung gefordert wird.

Beim Arbeitslosengeld II wurden in diesem Sinne die Regelsätze stärker pauschaliert, und es wurde von Einzelfallprüfungen abgesehen. Bedenklich ist die Regelung, die Miet- und Heizkosten bis zu einer bestimmten Grenze zu übernehmen. Ersparnisse zahlen sich so für den Transferempfänger nicht aus. Für mehr individuelle Autonomie wäre es sinnvoll, durch ortsübliche Wohnpauschalen (über Gutscheine) die Möglichkeit zu eröffnen, Geld statt für Wohnen für Bildung auszugeben. Solche Autonomie schafft Verantwortung und die Chance zur Selbstachtung.

Eine vergleichbare Fehlsteuerung verursachen die Hinzuverdienstregelungen, die einen hohen Anreiz für Teilzeitarbeit setzen und so Vouzeiterwerbstätigkeit diskriminieren. Damit wenden sich Empfänger von ALG II vor allem Beschäftigungsverhältnissen zu, die nur eine geringe soziale Bindung ermöglichen. Ihr Status ist gering, ebenso die Chance, Respekt zu erlangen. Eine Änderung der Regelung ist deshalb geboten. Notwendig ist zugleich, die leichtfertige Diffamierung der Aufstocker zu unterlassen. Sie verdienen Respekt, denn sie nutzen ihre Einstiegschance. Und sie verdienen eine faire Aufstiegschance. Dafür sollten wir streiten.

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