Eine Gesellschaft kann nicht alle Regeln in Gesetzestexte gießen, sondern braucht vielmehr ein hohes Maß an Gemeinsinn.
Wenn es am nötigen Vertrauen fehlt
Was haben die Bedarfsgemeinschaften beim Arbeitslosengeld II, der Vorruhestand und das Planfeststellungsverfahren für Verkehrsprojekte gemeinsam? Kurz gesagt: In allen drei Fällen offerieren gesetzliche Regelungen den Freiraum für Ausbeutungsstrategien. Aber ist das, was legal ist, auch legitim? Die öffentliche Kritik und Empörung spricht dagegen. Der Missbrauch gesetzlicher Regeln erzürnt gegen deren intendierten Zweck.
Für die bewusste Zellteilung von Familien, einzig um Leistungsansprüche nach Hartz IV zu erringen, gilt dies ebenso wie für Vorruhestandsprogramme, die für eine scheinbar bequemere Gestaltung des betrieblichen Beschäftigungsstandes ausgenutzt werden. Eine moralische Differenz ist zwischen diesen Verhaltensweisen nicht zu erkennen. Das trifft nicht minder für manche Strategien von Umweltverbänden zu, die sich unter der Tarnkappe sittlicher Überlegenheit gegen die Lebensinteressen von Bürgern richten.
Besonders eindrucksvoll führt dies der Bund für Umwelt und Naturschutz mit seiner zur Verhinderung sich auswachsenden Verzögerung des Ausbaus der Autobahn A 44 zwischen Kassel und Eisenach vor. Der für diese Region geforderte Schutz der Umwelt steht in keinem Verhältnis zu seinen schädlichen Folgen für die Perspektiven der dort Lebenden. Eine Umwelt ganz ohne den Menschen soll der Politik als Leitbild aufgezwungen werden; der Mangel an demokratischer Legitimation wird durch den Anspruch fragwürdiger Übermoral ersetzt.
In allen drei Handlungsfeldern treffen wir auf ein Dilemma der Freiheitsgesellschaft: Wie erreichen wir eine moralische Orientierung und Bindung von Einzelnen oder Gruppen, die eine legale Ausbeutung von gesetzlichen Regeln verhindern? In den Worten des gestern vorgestellten Memorandums der beiden christlichen Kirchen zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens: Wie mobilisieren wir Tugenden für die Demokratie? Das gemeinsame Wort der Kirchen adressiert berechtigte Sorgen, und es macht dabei Mut.
Viele fragen sich, welchen Stellenwert individueller Moral als Handlungsmotiv sowie Vorbildfunktion in einem System zukommt, das die kollektive Moral in Regelwerke umformt, die den Einzelnen entlasten und die Gesamtordnung steuern sollen. Die Feststellung der Kirchen, dass "freiheitliche Institutionen ... nicht aus sich heraus das notwendige Minimum an Gemeinwohlorientierung demokratischer Politik erbringen" können, ist ebenso richtig wie diejenige, "dass freiheitliche Ordnungen die Begrenzung und die Kontrollierbarkeit von Macht institutionell gewährleisten".
Damit ist aber das Dilemma nur beschrieben. Wer macht die guten Spielregeln, und wer fordert von den Spielern darüber hinausgehend tugendhaftes Verhalten? Wer verbindet individuelle Freiheit und Verantwortung so, dass Ausbeutungsstrategien so weit wie möglich eingedämmt werden? Wie viel Tugend ist dafür nötig? Wie viel Gemeinsinn braucht die Gesellschaft?
Der Ökonom wirbt für die Einsicht, dass die marktwirtschaftliche Ordnung aus der Gewährung individueller Freiheit resultiert und deshalb realistischerweise mit den Menschen auskommen muss, wie sie nun einmal vor allem sind: egoistisch und interessengeleitet. Freiheit und Verantwortung werden erst durch eine verlässliche Rahmenordnung durch klare Spielregeln – zu einer systematischen Einheit, indem Haftungsgrundsätze etabliert werden und ökonomische Macht unausweichlich unter Wettbewerbskontrolle gesetzt wird. Moralische Postulate hingegen können Freiheit und Verantwortung nicht zusammenbinden.
Die skizzierten Beispiele von Ausbeutungsstrategien beziehen sich alle auf staatlicherseits definierte Handlungsräume. Sie irritieren uns und führen zu moralgeleiteter Kritik und Empörung, weil eine schnelle und glaubwürdige Sanktion regelmäßig nicht zu erwarten ist.
Anders als in wettbewerbsintensiven Märkten muss der Gesetzgeber nachsteuern, um das eigentlich Intendierte einzufordern. Kritik und Empörung richten sich gleichzeitig gegen diejenigen, die schlechte Spielregeln zu verantworten haben. Erst die Wertefundierung der Regeln wirft den Anker für die Orientierung der Individualmoral.
Und dennoch ist richtig: Auch bei Spielregeln, die der Sache angemessen und widerspruchsfrei sind, gibt es genug Raum für Falschspieler. Eine freiheitliche Gesellschaft kann ohne Gemeinsinn nicht überleben. Sie kann nur funktionieren, wenn die Erträge eines auf Vertrauen bauenden Miteinanders größer sind als die Gewinne aus Strategien des Misstrauens. Kurz: Sie braucht hinreichend Vertrauenskapital als Voraussetzung für mehr Wachstum. Es geht um informelle Normen, die gerade nicht in Gesetzestexten aufgeschrieben sind.
"Kein Mensch", so der Philosoph Otfried Hoffe, "bringt ein Engagement für sein Gemeinwesen von Geburt an mit." Den dafür notwendigen Lernprozess befördern Lektionen, die niemanden aus seiner Verantwortung entlassen, wenn er aus freiem Willen entschieden hat. Nur subsidiär darf die Verantwortung des Einzelnen durch staatliche Systeme korrigiert werden. Das Durchbrechen dieser Prinzipien zerstört das Vertrauen in das politische, gesellschaftliche und ökonomische Miteinander.
Der politische Diskurs muss auf dieser Basis gesellschaftliche Vorstellungen für die Legitimität des Handelns hervorbringen. Das entlastet den Gesetzgeber von Regelungsbedarf und bietet zugleich eine Grundlage für die Korrektur von Spielregeln.
Arbeitslosengeld II, Frühverrentung und das Einspruchsrecht von Verbänden sind Beispiele für Lektionen, die den Bürgersinn schwächen und der grundlegenden Revision bedürfen. Vertrauenskapital ist ein Engpassfaktor unserer Volkswirtschaft.
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