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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 25. März 2010

Warum Deutschland anders ist als seine Partner

Die Bundesrepublik zeichnet sich durch eine wettbewerbsfähige Industrie aus. Die beruht nicht auf Lohndumping, sondern auf einer erfolgreichen Spezialisierung. Regionale Besonderheiten reichen teilweise Jahrhunderte zurück und wirken bis heute.

Die Bewältigung der Krise schreitet voran. Bereits im vergangenen Herbst ließen die deutschen Unternehmer in einer Umfrage erkennen, dass sie die Krise mehrheitlich als Wachstumspause ansehen, nicht aber als Strukturbruch. Diese Erwartung war umstritten: Auf dem Höhepunkt der Krise gab es auch die These, jetzt komme der deutsche Sonderweg starker Industrieprägung zu einem Ende. Dahinter stand der Verweis auf die besondere Schärfe des krisenbedingten Einbruchs, den die Industrie mit ihrer enormen Exportorientierung zu verantworten habe.

Jüngst haben Äußerungen der französischen Finanzministerin Christine Lagarde diesen Diskurs auf die europäische Ebene gehoben. Die Leistungsbilanzdefizite einiger europäischer Staaten seien ein Reflex der deutschen Exportüberschüsse, die auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zurückgingen. Die wiederum sei der Lohnzurückhaltung der letzten zehn Jahre geschuldet. Es wird die Forderung erhoben, dass Deutschland als Überschussland ein „besseres Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsum“ anzustreben habe, kurz: seine errungenen Wettbewerbsvorteile selbst verringern solle, beispielsweise durch eine expansive Lohnpolitik.

Diese Forderungen sind kurios. Bedeutsam ist hingegen die Frage, wie nachhaltig die außergewöhnliche deutsche Wirtschaftsstruktur überhaupt sein kann.

Zunächst einige Fakten: Während der Industrieanteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung 2008 in Frankreich nur noch bei gut 14 Prozent lag, erreichte er in Deutschland gut 25 Prozent. Seit dem Jahr 1995 hat sich der Abstand der Industrieanteile beider Länder nahezu verdoppelt. Innerhalb des verarbeitenden Gewerbes sind im Vergleich zu Frankreich die Chemie, die Metallverarbeitung, der Maschinen- und Anlagenbau, die Elektrotechnik, die Optoelektronik und der Automobilbau von größerem Gewicht. Der viel gerühmte Mittelstand hat in der deutschen Industrie ein deutlich größeres Gewicht.

In Frankreich setzte sich wie in den meisten europäischen Volkswirtschaften der Prozess der Deindustrialisierung unverändert fort, in Deutschland hingegen stabilisierte sich vor zehn Jahren der Industrieanteil, um im letzten Aufschwung sogar wieder anzusteigen. Dahinter steht ohne Zweifel der Exporterfolg der deutschen Industrie, der sich seit Beginn des Jahrtausends nochmals verstärkte. Getrieben durch die dynamischen Aufholprozesse der Schwellen- und Entwicklungsländer, gelang es vor allem den Herstellern von Investitionsgütern, ihre Position in diesen Märkten weiter zu stärken. Gut 31 Prozent der deutschen Investitionsgüterexporte gehen in diese Region, Anfang des Jahrzehnts waren es gut zehn Prozentpunkte weniger. Heute ist fast ein Viertel der Beschäftigten direkt oder indirekt vom Export abhängig, 1995 waren es erst 15 Prozent. Die Arbeitskosten je geleistete Stunde in der Industrie sind (für 2008) in Deutschland (33,58 Euro) und Frankreich (33,23 Euro) fast identisch. Von 2000 bis 2008 hat sich die westdeutsche Position im Vergleich zu Frankreich aber um neun Prozent verbessert.

Damit aber kann der gravierende Unterschied der Industrialisierungsgrade nicht erklärt werden. Was macht Deutschland so anders? Wie lassen sich die Differenzen, die hier nur beispielhaft zu Frankreich angeführt sind, aber ebenso zu anderen Volkswirtschaften identifiziert werden können, im längerfristigen Strukturwandel erklären? Müsste nicht eigendich im Angesicht der vertieften internationalen Arbeitsteilung eine Annäherung der realwirtschaftlichen Strukturen zu erwarten sein, zumindest im gemeinsamen europäischen Währungsraum?

Nach der vom amerikanischen Ökonomen Robert Barro entwickelten Konvergenzrate dauert es etwa 25 Jahre, bis sich eine Sozialproduktslücke zur Hälfte geschlossen hat. Die empirische Forschung hat sich intensiv der Frage gewidmet, inwieweit die europäische Integration entsprechende Konvergenzerfolge zeitigt. Grundsätzlich ist bereits die formale Mitgliedschaft in der Union offenbar mit einem Wachstumsbonus verbunden. Dabei spielt neben der Handelsverflechtung zunehmend eine Rolle, dass es im gemeinsamen Wirtschaftsraum zu einer leichteren Verbreitung von Wissen kommt. Dieser Wachstumsbonus wirkt, verbunden mit der Zinskonvergenz infolge der Währungsintegration, asymmetrisch zugunsten neuer Mitglieder.

Müsste dann nicht auch eine Annäherung der realwirtschafitlichen Strukturen zu erwarten sein? Die Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen beruht nicht unwesentlich darauf, dass in vergrößerten Wirtschaftsräumen der freie Kapitalverkehr letztlich eine Annäherung der Kapitalproduktivitäten und damit der Kapitalrenditen begründet. In den exportorientierten Sektoren gleichen sich die Arbeitsproduktivitäten an und somit auch die Einkommensperspektiven. Weil Arbeitskräfte in den einzelnen Volkswirtschaften hochmobil sind, kommt es zugleich zu Lohnsteigerungen in jenen Sektoren, die nicht im internationalen Wettbewerb stehen (Balassa-Samuelson-Effekt).

Schließlich führt die Internationalisierung der Unternehmenslandschaft zu einer Anpassung der Produktionstechnologien. Global präsente Unternehmen müssen identische oder zumindest kompatible Technologien anwenden. Auch die gestiegene Offenheit der Volkswirtschaften und die globale Kommunikation spielen eine Rolle: Konsummöglichkeiten gleichen sich an, wie wir es heute an der Austauschbarkeit der Einzelhandelsangebote in den Metropolen weltweit erleben. Das ist ein weiteres Argument für die plausible Erwartung international, besonders aber in Integrationsräumen konvergierender Wirtschaftsstrukturen.

Steuert der Nachfragewandel als globales Phänomen den volkswirtschaftlichen Strukturwandel? In Deutschland ist der Anteil der Dienstleistungen an den privaten Konsumausgaben seit Anfang der neunziger Jahre von knapp 44 Prozent auf 52 Prozent gestiegen. Dagegen erreichen die Dienstleistungen an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung derzeit rund 70 Prozent. Wie lässt sich diese Differenz von rund 18 Prozentpunkten erklären?

Der Serviceanteil am gesamten deutschen Export liegt mit maximal 15 Prozent deutlich unter dem internationalen Durchschnitt. Bei den stark expandierenden Dienstleistungen dürfte es sich also eher um Vorleistungen für die klassische Industrie handeln: Einerseits können Industriewaren heute nicht mehr ohne ergänzenden Service und produktnahe Dienste auf den Märkten erfolgreich platziert werden. Gerade die deutschen Unternehmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Problemlösungen anbieten, die sich um klassische Produkte ranken. Andererseits haben sich viele Dienstleistungsprozesse im Umfeld der eigentlichen Produktion differenziert und professionalisiert. Marktschöpfung und Marktintensivierung führen zu Qualitätsgewinnen und Größenvorteilen. So schafft das Outsourcing in der Summe Wertschöpfung und erhöht die Verflechtung zwischen Industrie und Dienstleistern.

Wenn der dominante Impulsgeber des volkswirtschaftlichen Strukturwandels in Deutschland die Industrie ist, dann muss die Erklärung der deutschen Sonderstellung im internationalen Konzert hier ansetzen.

In der Wissenschaft werden Netzwerke und Cluster als wichtige Voraussetzung divergenter Entwicklungen bewertet. Cluster zeichnen sich durch eine kritische Anzahl von Unternehmen in räumlicher Nähe aus, die entlang einer oder mehrerer Wertschöpfungsketten kooperieren. Sie können auch ein vergleichbares Profil haben, dann bilden sie einen Anreiz für den Ausbau, die Qualität und die Differenzierung der Infrastruktur sowie der Bildungseinrichtungen. In Clustern lassen sich Überschwappeffekte technologischer Neuerungen (Spill-over) leichter ermöglichen, zugleich können Verbundvorteile und Lernkurveneffekte durch Wissens-, Vorleistungs- und Produktionsnetzwerke befördert werden. Und die neuere Wachstumstheorie sieht den endogenen technischen Fortschritt als einen der wesentlichen Faktoren an, die Wachstum auslösen. Zudem ermöglicht eine Konzentration der einzelnen Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen bei Auslagerung von Sekundärfunktionen auf Zulieferer eine verbesserte Arbeitsteilung.

Cluster und Netzwerke sind aber nicht leicht zu schaffen, sie sind oft an Voraussetzungen gebunden, die über Vertrauen und Reputation zeitlich weit zurückgreifen. Dabei mag bedeutsam sein, dass so über lange Zeit nicht nur Regionen spezifischen Wissens entstehen, sondern auch Regionen, in denen die Beschäftigten sich durch spezielle Einstellungen und Haltungen auszeichnen. Studien über den internationalen Erfolg der deutschen Unternehmen betonen immer wieder, dass deren Leistungen, Qualität und Liefertreue besonders verlässlich seien.

Eigentlich müssten regional spezifische Tugenden in Zeiten des globalen Standortwettbewerbs und der internationalen Arbeitsteilung ihre Bedeutung verlieren. Dagegen sprechen jedoch die Erfahrungen, die viele international produzierende Unternehmen immer noch mit den sehr unterschiedlichen Kulturen an den verschiedenen Produktionsstandorten machen. Sie führen dazu, dass unterschiedliche Ablauforganisationen ebenso vorkommen wie spezielle, ortsangepasste technische Lösungen.

Der Erfolg der mittelständisch geprägten deutschen Industrie liegt in den Regionen begründet, die solche Verdichtungen ermöglichen. Es spricht viel für die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten, d.h. lange zurückgreifende Entwicklungen mit strukturprägender Kraft. Die Industrialisierung wird heute von den Historikern nicht mehr als nationale Entwicklung begriffen, sondern als Vorgang regionaler Verdichtung und Differenzierung.

Die deutsche Kleinstaaterei des neunzehnten Jahrhunderts hat durch den Ausbau der Infrastruktur die regionale Wirtschaftsentwicklung gestärkt, die durch die spezifischen Ressourcen und die unterschiedliche Verfügbarkeit von Arbeit und Kapital angelegt war, und eine kulturelle Differenzierung begünstigt. So hat die zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts verfugte Gewerbefreiheit die regionalen Unterschiede eher verstärkt. Zugleich konnte sie so den Anfang langer Unternehmensgeschichten setzen, denn nicht selten weisen mittelständisch geprägte Industrieunternehmen bei uns eine 100,150 oder gar 200 Jahre umfassende Historie auf.

In Frankreich dagegen verlief die Industrialisierung fast im ganzen neunzehnten Jahrhundert deutlich langsamer. Die napoleonische Unruhezeit hat das Investitionsgeschehen gebremst, durch die Kontinentalblockade war der Binnenmarkt stärker abgeschirmt, und in harten Kämpfen gegen eigenständige Regionen wurde eine zentralistische Politik erzwungen. So blieb beispielsweise der Eisenbahnbau weit zurück, während im Deutschen Reich die Eisenbahn schnell zum zentralen Antrieb des Strukturwandels wurde und wichtige Impulse für die drei aufs Engste miteinander verbundenen Leitbranchen - Bergbau, Metallerzeugung und Maschinenbau - gab.

Die Wirkung in der langen Frist ist freilich kein Selbstläufer, sondern bedarf der Stützung. Die besondere deutsche Tradition der dualen Berufsausbildung und der Ingenieurwissenschaften stabilisierten über gut ausgebildete Mitarbeiter den Vorsprung. Die Verlagerung einfacher Tätigkeiten, wie es in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts umfänglich geschah, hat zugleich diesen Qualitätskern der Industrie gestärkt. Auch das langfristig robuste dreigliedrige Universalbankensystem, das die Kreditversorgung in den Regionen sicherte, gehört in diesen Kontext. Die Ausbildung der Aktienbanken zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vollzog sich wiederum in den deutschen Einzelstaaten, sie ergänzte die lokalen Institute.

Doch der Verweis auf Pfadabhängigkeiten und die Wirkungen der langen Dauer, die sich gerade in regionalen Verdichtungen und Clustern differenzierend auswirken, greift allein zu kurz. Ebenso bedeutsam ist die Einsicht, dass einmal verlorene Strukturen industrieller Wertschöpfung nicht so einfach zu rekonstruieren sind. Die Irreversibilität solcher Entwicklungen lässt sich gut im Vereinigten Königreich erkennen. Dort forcierten verschiedene Impulse in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Deindustrialisierung: der wiederholte, häufig fundamentale Strategiewechsel der nationalen Wirtschaftspolitik von der Markt- zur Staatsorientierung, die Geiselnahme das Landes durch die Gewerkschaften in den siebziger Jahren, aber auch die hohe Absorptionswirkung des infolge seiner komplexen Monopolstruktur besonders renditestarken Finanzsektors für Kapital und hochqualifizierte Arbeit.

Nimmt man alles zusammen, dann kann die Divergenz im volkswirtschaftlichen Strukturwandel zwischen Deutschland einerseits und den meisten europäischen Ländern andererseits nur in historischer Perspektive einigermaßen zufriedenstellend eingeordnet werden.Sie ist als Ergebnis einer natürlichen Spezialisierung zu respektieren, in der es den deutschen Arbeitnehmern und Unternehmen bei allem Strukturwandel gelungen ist, ihre Besonderheiten, Stärken und Tugenden zu erhalten und zu nutzen. Das zeigt: Es gibt keinen Grund, sich in der Europäischen Union auf fragwürdige Debatten um überzogene deutsche Exportstärke einzulassen.

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