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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 9. September 2010

Staat und Elternwille

Es gibt politische Vorschläge, die ziehen Kritik von beiden Seiten des politischen Spektrums auf sich. Die Chipkarte, die Sozialministerin von der Leyen als eine Antwort auf das Verfassungsgerichtsurteil zur Festlegung des Sozialgelds für Kinder vorgeschlagen hat, gehört zu dieser Kategorie. Der Staat will die Startchancen benachteiligter Kinder verbessern. Kreative Lösungen sind gefragt, damit die Hilfe auch ankommt.

Die einen beklagen, dass dadurch das Umverteilungsvolumen begrenzt wird, das sie aber gerne mit wohlmeinender Grundhaltung erhöhen würden. Gute Sozialpolitik hat dabei immer noch viel mit Geld zu tun. Die anderen argwöhnen, dass man den Entscheidungen der Eltern misstraue, was aber der liberalen Grundhaltung unseres Gemeinwesens widerspreche.

Beide Lager haben mit ihrer Kritik recht: Das Ausgabenvolumen des Sozialstaats soll begrenzt werden, und in der Tat gibt es durchaus gut begründbare Zweifel an der Kompetenz und dem Willen mancher Eltern, ihren Kindern eine gute Förderung und Ausbildung zukommen zu lassen. Wir bewegen uns auf einem ordnungspolitisch heiklen Terrain.

Es wäre naiv bis albern, wollte man der Sozialpolitik Wirkungsneutralität unterstellen. Der Staat hilft, um in Fällen unverschuldeter individueller Not einen Ausgleich zu schaffen und damit eine faire Chance auf Beteiligung im Gemeinwesen zu geben. Jede Form der Hilfe setzt Anreize. Entweder stärkt sie die Bereitschaft, wieder eigenständig zu handeln, oder sie begünstigt eine Haltung, die den Sozialtransfer als dauerhaften Anspruch versteht. Die Hartz-Reformgesetze zielten darauf, die Anreize zur Arbeitsaufnahme zu stärken. Schon deshalb kann es jetzt nicht um eine einfache Anhebung der Regelsätze gehen.

Doch bei der Gestaltung der Kinderregelsätze in der Einkommensgrundsicherung kommt etwas anderes hinzu. Jede Transferleistung erreicht die Kinder nur mittelbar, ihre Wirkung ist stets von Entscheidungen der Eltern abhängig. Das führt zu der Frage, wie man die Treffsicherheit der Kinderleistungen erhöhen kann.

Grundsätzlich haben die Steuerzahler einen Anspruch auf die zielführende und effektive Verwendung von Sozialleistungen. Dies gilt umso mehr, wenn ein Transferempfänger diese Zahlung treuhänderisch erhält. Zwar kann die Chipkarte einen Mangel an elterlicher Zuwendung nicht ausgleichen, doch gibt der Staat immerhin klare Hinweise für die sachlich gebotene Verwendung.

Aus urliberaler Sicht muss dies missfallen. Wenn es aber richtig ist, dass frühkindliche Bildung eine hochrentierliche soziale wie private Investition ist, dann bleibt nur die Frage, wie dies am besten sichergestellt werden kann. Die Chipkarte kombiniert Treffsicherheit mit Wahlfreiheit. Anders als bei reinen Sachleistungen ist der Nutzer der Chipkarte aber gefordert, aus dem Angebot auszuwählen. Das stärkt seine Nachfragemacht und -Souveränität ebenso wie den Qualitätswettbewerb auf der Angebotsseite.

Viele politische Maßnahmen führen zu der Frage, ob und wie ihre Zielerreichung durch bestimmte Voreinstellungen der Entscheidungslogik befördert werden kann. So könnte man die betriebliche Alterssicherung mit einer in den Anstellungsvertrag eingefügten Opt-out-Regel verbinden, wonach ohne bewusste Ablehnung eine solche Sicherung akzeptiert wird. Vergleichbar wird darüber diskutiert, ob eine Organspende nicht mit einer Opt-out-Regel geregelt werden könnte.

In modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften stoßen wir bei der Gestaltung kollektiver Lösungen schnell an Grenzen. Aufklärung und Ermunterung bleiben häufig wirkungslos. Das führt zu schwierigen Abwägungen. Doch eine Gesellschaft muss sich mit der Möglichkeit des Scheiterns auseinandersetzen, die als Preis für liberale Zurückhaltung droht.

Kreative Lösungen, eventuell befristet im Test, sind gefragt. Man könnte Opt-out-Regeln mit gravierenden Folgen wie beim Thema Organspende an eine plebiszitare Zustimmung binden.

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