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Michael Hüther Gastbeitrag 6. Juli 2006

Politisches Piercing

In das bestehende Gesundheitssystem darf auf keinen Fall mehr Geld geschleust werden.

Nach der langen Nacht der großen Koalition sprach die Kanzlerin von "einem wirklichen Durchbruch" bei der Gesundheitsreform. Angesichts der präsentierten Ergebnisse ist unklar, was sie damit gemeint haben könnte. Einen Hinweis bietet der für die Reform wohl tragende Beschluss, dass Entzündungen nach Piercing künftig selbst versichert werden müssen. Das Wort Piercing geht auf das lateinische Wort "pertusus" zurück, was so viel wie "durchbrechen" bedeutet. Hier also finden wir jene über Jahr und Tag hinausweisenden Veränderungen, die der SPD-Chef Beck erwähnte.

Doch Vorsicht ist geboten, denn so wie ein nicht fachgerecht durchgeführtes Piercing zu Komplikationen führen kann, indem die lokalen Schwellungen nicht abklingen, so droht dies auch bei dieser Reform. Nicht dass irgendjemand, auch nicht der für seine Naivität bekannte Ökonom, ordnungspolitische Klarheit und Konsistenz erwartet hätte. Aber die Geschwindigkeit, mit der diese Regierung ihre eigenen Ziele – dauerhafte Senkung der gesamten Sozialbeiträge auf unter 40 Prozent, höhere Steuerungseffizienz der Sozialversicherung – über Bord wirft, ist atemberaubend. Woran soll man sich da noch halten?

Klar ist, dass die Erhöhung der Beiträge um wahrscheinlich 0,7 Prozentpunkte – mindestens so viel ist tatsächlich zum Defizitausgleich bei den gesetzlichen Kassen erforderlich – über höhere Arbeitskosten und eine zusätzliche Belastung der verfügbaren Einkommen die konjunkturellen Risiken für das kommende Jahr erhöhen wird. Die in Aussicht genommene teilweise Steuerfinanzierung setzt einen ordnungspolitischen Slalom fort. Erst wurde die im Jahr 2003 begründet eingeführte Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen durch die neue Regierung zurückgenommen, nun wird das mit geringerem Volumen wieder rückgängig gemacht. Die Finanzierung der Kinderversicherung deckt der Steuerzuschuss auch mittelfristig bei weitem nicht. Überdies werden die Kinder der privat Versicherten ausgeschlossen und diskriminiert.

So bewahrheitet sich, was die Kanzlerin zuletzt immer öfter, aber ohne jede Begründung betonte: Gesundheit werde teurer. Niemand hat bislang erklären können, warum technischer Fortschritt hier – anders als in allen anderen Bereichen – zu Kostensteigerungen führen muss. Dies kann nur für ein System unterstellt werden, das nicht wettbewerblich organisiert ist.

Alle bisherigen Öffnungen der vor Wettbewerb geschützten Sektoren belegen, dass die Gewährung von Entscheidungskompetenz und die Forderung nach Haftung die Konsumenten letztlich besser stellen. In das bestehende Gesundheitssystem darf in keinem Fall mehr Geld geschleust werden.

Mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem ist nach den Koalitionsbeschlüssen aber nicht zu erwarten. Die Möglichkeit der Kassen, mit einzelnen Leistungsanbietern Verträge abschließen zu können, bleibt Stückwerk. Die Standesvereinigungen regeln unverändert die Vergütungen. Wie soll hier wirksamer Wettbewerb auf der Leistungsseite entstehen?

Das gilt ebenso für die Einführung von Höchstpreisen für Arzneimittel, ein bekanntermaßen ordnungspolitisch bewährtes Instrument! Die genannten Einsparungen von bis zu 3,5 Milliarden Euro sind Hoffnungswerte mit allenfalls einmaliger Wirkung wie nach den vorangegangenen Reformgesetzen auch.

Vor allem aber: Der dringend notwendige Wettbewerb zwischen den Krankenversicherungen wird nicht erreicht. Der Gesundheitsfonds wird zwar als völlig neue Form der Finanzierung gepriesen. Doch mit dem zusätzlichen Inkassoverfahren entsteht vor allem neue Bürokratie. Jede Kasse erhält aus diesem Fonds künftig einen Pauschalbetrag je Versicherten. Der bisherige Risikostrukturausgleich wird darin aufgehen. Dieser ökonomisch eigentlich nur für eine Übergangsphase nach Einführung der Kassenwahlfreiheit im Jahr 1996 zu rechtfertigende Finanzausgleich wird so zu einer Dauerveranstaltung.

Der Wettbewerb der Kassen reduziert sich damit auf Unterschiede in der Verwaltungseffizienz. Divergierende Wettbewerbsstrategien bleiben dagegen weitgehend ohne finanzielle Folgen, so dass kaum ein Anreiz dazu besteht. Die Einheitskasse rückt näher.

Den Versicherten werden zwar Wahlmöglichkeiten in Aussicht gestellt. Dies fördert den Wettbewerb aber nur dann, wenn sie auch die finanzielle Verantwortung für ihre Wahl tragen. Der Gesundheitsfonds ebnet stattdessen die preisliche Differenzierung der Kassenbeiträge ein, die gegenwärtig zwischen 11,8 und 14,6 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens liegen. So soll die ergänzende Sonderabgabe – ob als Kopfpauschale oder als prozentualer Beitrag – ein Prozent des Einkommens nicht übersteigen dürfen. Zudem muss der allgemeine Beitrag angehoben werden, sobald durch die Fondsmittel weniger als 95 Prozent der Gesundheitsausgaben finanziert werden. Merkliche Preisunterschiede, wie sie für einen wirksamen Kassenwettbewerb notwendig sind, können so nicht zu Stande kommen.

Während die Reform im Bereich der gesetzlichen Kassen den Wettbewerb somit eher schwächt, wird er bei den privaten Kassen befördert. Die vorgesehene Möglichkeit, die Alterungsrückstellung mitnehmen zu können, macht einen Wechsel für bereits länger Versicherte überhaupt erst möglich. Hier müssen die privaten Anbieter endlich ihren Beitrag liefern.

Alles in allem hat das politische Piercing keinen Durchbruch gebracht. Der Hinweis, dass Schlimmeres – umfassende Steuerfinanzierung, Enteignung der privaten Kassen – verhindert wurde, taugt nicht, um das Ergebnis zu relativieren. Unsinn wird nicht zu Sinnvollem, nur weil noch größerer Unsinn denkbar ist.

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