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(© Foto: tirc83/iStock)
Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 23. März 2017

Zerfällt der Westen?

Menschenrechte, Gewaltenteilung, Demokratie: Die Werte des Westens erodieren. Ist unser Gesellschaftsmodell am Ende? Nein. Doch die transatlantische Erzählung braucht eine lebenspraktische Übersetzung. Ein Gastbeitrag von Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln und Russell Berman, Professor für Geisteswissenschaften an der Stanford University und Senior Fellow an der Hoover Institution.

Derzeit verlieren grundlegende Orientierungen unseres westlichen Gesellschaftsmodells rasant die zuvor nie bezweifelte Selbstverständlichkeit. Die Gründe dafür sind zahlreich: die Rechtsnationalisten in Westeuropa, die Linkspopulisten in Südeuropa (Syriza, Podemos). Doch besonders fatal wirken die autoritäre Wende in Teilen Osteuropas, Erdogans Abschied von Europa, das Versagen des arabischen Frühlings und Putins Angriff auf die politische Ordnung nach 1990. Vor allem aber wirkt bereits die isolationistische Entwicklung in den Vereinigten Staaten, die sich in Trumps Wirtschaftsnationalismus ausdrückt. Diese Druckfaktoren bündeln sich in zuvor unbekannter Weise.

Wer glaubt, dass es nur um politische Interessen und die Frage nach der angemessenen Repräsentation sowie den Machtausgleich geht, der irrt. Die explizit vorgetragene offene Absage an den "transatlantischen Westen" (wie etwa vom russischer Außenminister Lawrow und von europäischen Rechtspopulisten) oder die implizit enthaltene (Trumps Kritik an Freihandel und Globalisierung sowie Erdogans Verfassungspläne) sind nicht nur Versuche, das Miteinander der Staaten auf eine rein macht- und interessenbasierte Grundlage zu stellen, die wir historisch aus dem 19. Jahrhundert kennen. Es ist viel tiefer gehend eine Absage an die westlichen Werte, die das Projekt des Westen aus historischer Perspektive - 1776 und 1789 - normativ binden: die unveräußerlichen Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung, die Volkssouveränität und die repräsentative Demokratie.

Die Selbstgewissheit des Westens

Nun ist der Druck auf das normativen Projekt des Westens von außen und innen nicht zufällig so gebündelt und so stark wie niemals zuvor. Die im Gegensatz dazu scheinbar komfortable Situation während des West-Ost-Konflikts ergab sich aus der eindeutigen und negativen Alternative. Nach der Auflösung des West-Ost-Konflikts dominierte eine naive Selbstgewissheit des Westens, erkennbar in der unausgesprochenen Alternativlosigkeit des eigenen Gesellschaftsmodells.

Die Folge war eine doppelte Unachtsamkeit: erstens den negativen Folgen gegenüber, die dem westlichen Modell inhärent sind. Zweitens den tatsächlich vorhandenen Alternativen gegenüber, die seit längerem aus der kapitalistischen Öffnung Chinas, das weiterhin eine Volksdiktatur ist, und jüngst aus dem "islamistischen Projekt" resultieren. Die große Chance der gegenwärtigen Unordnung liegt jedoch darin, die Potenziale und die Potenzen des Westens zeitgemäß neu zu vermessen und daraus konkrete Ableitungen für die Umsetzung zu erhalten.

Zunächst: Ist der Wertekanon des Westens überhaupt noch plausibel und angemessen? Der Historiker Heinrich August Winkler lässt daran keinen Zweifel aufkommen: Die Geschichte des westlichen Projekts sei noch lange nicht auserzählt, denn "die subversive Kraft der Ideen von 1776 und 1789 hat sich noch längst nicht erschöpft", und "das normative Projekt ist im Hinblick auf die Universalität der Menschenrechte" unvollendet. Hieraus ergeben sich derzeit vor allem vier gewaltige Spannungsfelder: Erstens die Führungskrise mit dem Westen als Zielregion der Migration. Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang noch die "Universalität der Menschenrechte"? Es haben sich tiefgreifende Unterschiede in der Aufnahmebereitschaft der entwickelten Länder gezeigt. Zugleich aber hat sich auch eine relative Schwäche bei der Bekämpfung der Ursachen der Flucht offenbart, wie auch ein Versagen der Diplomatie in Syrien.

Müssen wir uns da nicht viel mehr auf Hannah Arendts Bekenntnis "We Refugees" - einen Essay über das politische Selbstverständnis von Flüchtlingen - beziehen und gerade angesichts der Flüchtlingsbewegung normativ konsistent Haltung beziehen?

Es fehlt an Vorbildern

Zweitens die Elitenkrise mit der daraus resultierenden Konsequenz, dass die für die Geschichte des Westens typische Selbstdurchsetzung seiner Werte fundamental geschwächt wird. Tatsächlich bedarf es aber - wie der Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Röpke es nannte - "säkularisierter Heiliger", womit er allgemein akzeptierte Vorbilder meinte. Wir würden heute von der politisch-kulturellen Klasse sprechen. Diese "Heiligen" sind uns allerdings überall in der westlichen Welt abhandengekommen.

Dieses Fehlen einer glaubwürdigen Elite geht allerdings Hand in Hand mit einem emphatischen Anti-Elitismus im sich weit verbreitenden Populismus. Kann der Westen ohne den problemadäquaten Diskurs der Eliten nahe bei den gesellschaftlichen Problemen seinen Weg selbstbewusst gehen? Drittens die Medienkrise: Demokratie und minderheitsresistente Rechte der Mehrheit funktionieren nur mit einem intakten "öffentlichen Raum" (Hannah Arendt), der dem Austausch und Aushandeln der Bürgergesellschaft dient. Das setzt funktionsfähige Medien und faktenbasierte Diskurse voraus.

In Zeiten von Fake News, "alternative news" and "postfaktischen Diskursen" verlieren wir diese Basis. Die Gesellschaft zerfällt in Vorurteilsgemeinschaften, das Gemeinsame ist nicht mehr zu gestalten. Das ist ein Vorgang, der durch die neue Technologie und soziale Netzwerke nur beschleunigt wird. Die drängende Frage: Wie also sichern wir unseren öffentlichen Raum?

Viertens die Legitimationskrise der Politik infolge unaufhaltsam wachsender Bürokratisierung, einer nur noch strategischen Öffentlichkeitsarbeit und einer "volksfernen" Politik. Hinzu kommt noch der Druck, größere Räume zu verwalten und zu integrieren, um einer globalen Konkurrenz standzuhalten. Dadurch verschwinden die Machtzentren in der Ferne. Hieraus resultieren die Zunahme exekutiver Macht in den USA und das "Demokratiedefizit" in der EU. Trotz globaler Interdependenzen gibt es starke Gründe für eine Neubelebung des Subsidiaritätsprinzips.

Dynamisierung der Integration

Was aber bedeutet die Krise des Westens für die Verheißung seiner Wirtschaftsordnung, der Marktwirtschaft? Die Globalisierung unserer Zeit gewann mit dem Fall des Eisernen Vorhangs eine neue Qualität. Zugleich ging aber das Bewusstsein davon verloren, dass diese Globalisierung eingebunden in die "Geschichte des Westens" selbst ein normatives Projekt ist. Die Dynamisierung der weltweiten wirtschaftlichen Integration ist mit der Aussicht verbunden, auf der Grundlage der westlichen Werte eine verlässliche Basis zu schaffen - und diese wiederum durch den wirtschaftlichen Erfolg zu stabilisieren. Die werteneutrale Sicht der globalisierten Marktwirtschaft mit Blick auf China hat gravierende Rückwirkungen auf die Vermittlung der Globalisierung im Westen.

Freihandel und unbehinderter Kapitalverkehr sind essenziell für die Wohlstandsmehrung, können aber auch gravierende Verteilungsfolgen haben: einkommensmäßig und in regionaler Hinsicht. Staaten mit angemessener Infrastrukturpolitik - materielle und immaterielle (Bildung) Infrastruktur - stehen besser da. Die Schieflage in altindustriellen Regionen muss durch wirksame Strategien beantwortet werden.

Die Verarmung oder Unterentwicklung ganzer Regionen und Länder kann jedenfalls nicht zur Wahrheit eines erfolgreichen Westens gehören. Diese lange ignorierten regionalen Folgen der Globalisierung werden dort als Kontrollverlust gedeutet: Man ist undurchsichtig fremden Kräften ausgesetzt.

Antworten auf den Kontrollverlust

Aus all dem folgt: Das normative Projekt des Westens ist nicht tot, wie Lawrow behauptet hat, aber es ist überholungsbedürftig. Allein die Erzählung der westlich-transatlantischen Werte reicht nicht mehr (so wie auch die Erzählung der europäischen Idee für Frieden und Wohlstand) - obgleich sie unverändert richtig ist. Sie bedarf der lebenspraktischen Übersetzung. Das erfordert Antworten auf den fundamentalen Kontrollverlust infolge der Globalisierung, der Finanzkrise und der Digitalisierung.

Die damit angelegte Identitätskrise in den westlichen Gesellschaften findet derzeit nur negative Antworten der Abschottung, sei es sozialpolitisch, sei es handelspolitisch. Es muss aber darum gehen, durch eine Rückbindung an die normative Basis der Marktwirtschaft, ihrer Verankerung in den Werten des Westens, den Primat der Politik durch eine Debatte über die in den Feldern gleichermaßen bedeutsamen Regulierungsfragen und Standardsetzung gerade auch in der G20 bewusst zu füllen.

Zudem muss es darum gehen, durch eine differenzierte Standortpolitik im Westen, die die relevanten Bildungsprobleme, die Verteilungsfolgen und die regionalen Entwicklungsunterschiede wirksam angeht, neue Aufstiegsperspektiven realistisch zu begründen. Geschieht dies, sollte es möglich sein, die moralischen Verpflichtungen des Westens in der Welt ernst zu nehmen, wo sie besonders gefordert sind: in der Entwicklungspolitik und in der Flüchtlingspolitik. Das wird aber nachhaltig nur möglich sein, wenn man die sozialen Probleme zu Hause anpackt und glaubwürdige Aufstiegsperspektiven schafft.

Zum Gastbeitrag auf handelsblatt.com

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