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Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung Gastbeitrag 15. November 2014

Zeit und Krise

Ökonomen neigen dazu, ihre Beobachtungen zu verallgemeinern und zu verabsolutieren, so Michael Hüther in seinem Samstagsessay für die Süddeutsche Zeitung. Wer nur im Hier und Jetzt lebt, übersieht demnach Risiken. Der Blick in die Geschichte, erklärt Hüther, kann helfen und schützt vor einfachen Wahrheiten.

Ökonomisches Denken verleitet zur Vereinfachung und zur Zeitlosigkeit. Weil die Zunft dazu neigt, Akteure und ihr Handeln in Kategorien einzuordnen, ist sie in Versuchung, ökonomische Theorien für immer und überall gültig zu erklären, gewissermaßen mathematische Gewissheiten oder absolute Wahrheiten zu sehen. Der Rückgriff auf die unterschiedlichen historischen "Zeitschichten", wie sie der Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck nennt, unterbleibt.

Freilich: Eine Sammlung historischer Einmaligkeiten ist kaum dazu geeignet, aus ihnen eine Theorie abzuleiten – ganz egal, wie umfassend diese Sammlung auch sein mag. Die wirtschaftliche Realität ist durch komplexe Strukturen und Zusammenhänge sowie individuelle Verhaltensmuster geprägt – wenn man daraus eine Theorie machen will, geht das nur, wenn die jeweiligen Probleme auf ihren Kern reduziert werden.

Diesem Ansatz folgt die viel kritisierte Figur des Homo oeconomicus, der als Entscheidungsmaxime nur das Eigennutzprinzip kennt; die Existenz anderer Motive – wie sozial verankerte Werte – wird zwar nicht ausgeschlossen, doch traditionell nicht thematisiert. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt darin, die für gesamtwirtschaftliche Analyse notwendige Verallgemeinerung vornehmen zu können. So genannte "aggregierte Agenten" abstrahieren von der Frage, die sich aus dem Zusammenwirken unterschiedlich motivierter Individuen ergibt.

Zugegeben: Die ökonomische Theorie benötigt Idealtypen für das Verhalten des Individuums in seinen verschiedenen Rollen, für die Funktionsweise von Märkten und für das Verständnis von Volkswirtschaften. Doch in dem Maße, in dem die Sprache der Ökonomik formalisiert wurde, hat sich durch die damit verbundene Abstraktion von Realtypen eine stupende Geschichtslosigkeit eingeschlichen und dann dominant breit gemacht. Die Wirtschaftsgeschichte ist weitgehend an die Geschichtswissenschaft delegiert worden.

Der Verzicht auf historische Betrachtungen hat bedeutsame forschungspraktische Konsequenzen: Er ermöglicht die Formulierung einer ökonomischen Welt in Modellen, ohne deren Voraussetzungen erörtern zu müssen. Es geht dann ausschließlich um die Preisbildung und die Veränderung relativer Preise als Steuerungslogik in vollkommenen, informationseffizienten Märkten, auf denen homogene Güter gehandelt werden. Risiken sind nur eine Frage des Preises und kein spezifisches Problem für die Zusammensetzung und das Wirken von Institutionen. Kulturelle Differenzierung, Habitus und Haltung, begrenzte Rationalität, asymmetrische Information und Transaktionskosten sind in der herrschenden Lehre irrelevant.

Der Mainstream ökonomischen Denkens hat besonders in der Finanzwirtschaft praktische Konsequenzen, er ist für die große Finanzkrise 2007/2008 mitverantwortlich. Die neoklassische Finanzmarktökonomik kam im Gewand einer eleganten und angeblichen unbestechlichen Mathematik daher und erlangte großen Einfluss nicht nur in der Theorie, sondern auch in ganz praktischen Zusammenhängen, so in der Bewertung von komplizierten Wertpapiergeschäften. Informationsprobleme, die im Kern jeder Finanzmarkttransaktion schlummern, wurden nicht thematisiert. So ermöglichte diese institutionenfreie Theorie einen Boom des Kreditgeschäfts, das immer neue Geschäftsmodelle und Wertpapiere wie vom Fließband produzierte. All dies fand unter Echtzeit-Bedingungen statt, historische Erfahrungen spielten keine Rolle.

Gewaltige Gewinne ermöglichten zuvor nicht denkbare Bonuszahlungen. Die entsprechenden Gehaltssysteme, die nur am schnellen Gewinn orientiert waren und bisher ungeahnte Gewinnmöglichkeiten in Aussicht stellten, verführten die Finanzmarkthändler dazu, Nischenwissen auszubeuten oder gar zu manipulieren. Der Fehlanreiz zu Beschleunigung und Kurzatmigkeit war damit doppelt gesetzt: Einmal durch die inszenierte Marktdynamik, zudem durch die Verdienstdynamik. „Ein Merkmal des fortgeschrittenen Pumpkapitalismus war ja die außerordentliche Kurzatmigkeit allen Handelns“ (Ralf Dahrendorf). Der Verlust der historischen Zeit im ökonomischen Denken führte zu einem Handeln und einer Haltung der Finanzmarktakteure, in der sich der Druck zum immer schnelleren Erfolg in der Rastlosigkeit der Echtzeit niederschlug.

Der Raum für Verantwortung wurde extrem verengt, weil eine weitergehende als die Ergebnisverantwortung die mutige Entscheidung verlangt hätte, bestimmte Geschäfte aufzugeben oder gar nicht erst zu machen, und zwar Geschäfte, die – wie die Verbriefung der Erst-Verlust-Tranche eines Kredits – auch im Lichte der Theorie fragwürdig waren. Das schien nicht nur mit Blick auf die Kapitalgeber als unmöglich, es hätte zudem eine fundamental andere Haltung verlangt. Denn die Macht der Finanzmarktakteure lebte von der Echtzeit-Bedingung sowie der dadurch ermöglichten Beschleunigung. Hinzu kam, dass die in der theoretischen Prägung dominante Marktform vollkommenen Wettbewerbs gerade für erweiterte Verantwortungsperspektiven keinen Raum lässt. Von Unternehmen ist im Wettbewerb nur die Ergebnisverantwortung gefordert; sie haben unter Einhaltung der vorgegebenen Spielregeln das wirtschaftliche Ergebnis zu maximieren. Diese Deutung sozialer Verantwortung von Unternehmen hat Milton Friedman – Nobelpreisträger 1976 – präzise formuliert.

Edmund Phelps – Nobelpreisträger 2006 – weist hingegen darauf hin, dass im Falle von Marktunvollkommenheiten altruistisches (also selbstloses) Verhalten die Effizienz steigern kann, weil es Transaktionskosten senkt und Informationsasymmetrien zu überwinden hilft. Und: Solches Verhalten, das wir auch als Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung beschreiben können, fördert Sozialkapital und ist gegeignet, Prozesse zu steuern – vor allem dort, wo marktliche Kooperation alleine nicht ausreicht. Da muss Ökonomie nicht neu gedacht, sondern nur breiter rezipiert werden.

Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen verlangt ein ermöglichendes Zeitregime für die Marktakteure. Das muss die Theorie leisten. Versteht man die Typisierung von Marktvorgängen und -akteuren nicht als höchstes Ziel der Ökonomie, sondern nur als ersten Schritt, dem dann die aus der Geschichte gewonnene Erfahrung hinzugefügt wird, dann wird ein erweitertes Verantwortungskonzept möglich.

Das bedeutet zugleich, die Marktakteure in ihren historisch-kulturellen Kontext zu stellen. Denn wie kann sonst erklärt werden, dass Gesellschaften auf identische Regeln unterschiedlich reagieren. Wie kann sonst erklärt werden, dass Gesellschaften gerade nicht effizient voneinander lernen, sondern beharrlich ihren Wege in historischen Pfaden gehen. Wie kann sonst erklärt werden, dass trotz globaler Arbeitsteilung die wirtschaftlichen Strukturen beharrlich divergieren können. Es lohnt sich, in die Geschichte mit ihren vielen unterschiedlichen Erfahrungen einzutauchen, deren Ineinandergreifen ernst zu nehmen, um dadurch unterschiedliche Geschwindigkeiten, aber auch unterschiedliche Wirkungszeiten erfassen zu können.

So führen beispielsweise die wirtschaftsstrukturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich zu einer komplexen Zeitschichtenstruktur: Eine bedeutsame Schicht ist die napoleonische Ära mit der Kontinentalsperre, eine andere die dezentrale politische Machtstruktur des Deutschen Bundes im 19. Jahrhundert. Beides erklärt Unterschiede in Ausmaß und regionaler Struktur der Industrialisierung.

Ebenso ist die späte deutsche Reichsgründung 1871 von Bedeutung, weil die fehlende Nationsidee das Bürgertum stärker als anderenorts für Technik und Wirtschaft öffnete, gar begeisterte und dies den Umbau das Bildungssystem von der dualen Berufsausbildung bis zum Promotionsrecht technischer Hochschulen beförderte. Eine weitere Zeitschicht liefert die frühe Neuzeit, in der sich die Staatlichkeit in Mitteleuropa nicht auf zentraler Ebene, sondern in den Fürstentümern ausgeprägte, was wegen der größeren Nähe die Fürsorge des Herrschers forderte; die Einführung der Sozialversicherung ab 1883 ist auch damit zu erklären.

Diese Hinweise machen deutlich, worum es gehen muss: Wir müssen die formale ökonomische Theorie an den zahlreichen Erfahrungen einer Gesellschaft, wie sie sich über die Jahrhunderte gebildet haben, messen. Nur so können die wirtschaftspolitischen Erkenntnisse und Theorien praktische Relevanz erlangen, nur so können kostspielige Irrwege einer Echtzeit-Ökonomik verhindert werden. Natürlich gibt es übergreifende Einsichten, wie die Mechanik der Marktgesetze oder die Tragödie der Allmende, also die Übernutzung einer Gemeinschaftsressource, konkret: die Zerstörung der Umwelt. Dann – so Koselleck – bewegen wir uns in „geschichtliche(n) Zeiten, die über die Erfahrung von Individuen und Generationen hinausweisen“. Doch auch grundsätzliche Erkenntnisse bedürfen der Einordnung. Die Tragödie der Allmende zum Beispiel ist nur theoretisch zwangsläufig, ihre tatsächliche Möglichkeit ist historisch-kulturell je nach innerer gesellschaftlicher Bindung sehr unterschiedlich.

So gilt: Es ist für Ökonomen – und am Ende für die Gesellschaft – ertragreich, in historischen Zeitschichten zu argumentieren und der historischen Zeit in der Theorie Raum zu geben.

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