Thomas Piketty erzählt auf Grundlage seiner Datenrecherche die Wirtschaftsgeschichte neu, schreibt IW-Direktor Michael Hüther auf capital.de. Doch das greift viel zu kurz.
Verteilungsfragen first
Die erste Welle der Piketty-Rezeption ebbt langsam ab. Gerade deutsche Ökonomen haben vielfach deutlich gemacht, wo insbesondere die Prognosen und die wirtschaftspolitischen Ableitungen zu kurz greifen oder schlecht begründet sind. Es bleibt aber das Verdienst Pikettys, mit seinen originären sowie in ihrer Breite und Tiefe bisher unerreichten Datenrecherchen den Blick auf größere historische Zusammenhänge eröffnet zu haben, was in der akademischen Volkswirtschaftslehre derzeit nicht hoch im Kurs steht. Die Betrachtung historischer Datenreihen allein liefert aber noch keine Wirtschaftsgeschichte.
Hierzu sind weitergehende Fragen zu beantworten: Was kann ein Indikator über einen Zeitraum von 200 und mehr Jahren überhaupt aussagen? Welche Bedeutung ist dabei den sich verändernden Bedingungen beizumessen, die sich aus Institutionen, Produktionsweisen, Präferenzen, politischen Schocks u.a. ergeben? Der Hinweis von Piketty, dass sich die Relation des akkumulierten Kapitals zum Volkseinkommen am aktuellen Rand in den Industrieländern auf 400 bis 600 Prozent erhöht habe und damit wieder an jene Werte heranreiche, die für das 18. und 19. Jahrhundert ermittelt wurden, erfordert eine umfassende historische Einbettung und eine theoretische Erklärung.
So bleibt die Frage offen, was die genannte Relation bei trendmäßigem Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen aussagt und was der große Bruch der Wirtschaftsgeschichte, der sich nach 1820 mit dem Ausbruch aus der malthusianischen Falle infolge der industriellen Revolution ergab, dafür bedeutet. Dass eine Welt, in der wie bis in das frühe 19. Jahrhundert Krisen infolge allfälliger exogener Schocks stets mit gravierenden Bevölkerungsverlusten verbunden waren, grundsätzlich andere Lebenssituationen und Optionen für die Menschen bedeutete als heute, relativiert diesen Vergleich und stellt diesen sogar ganz in Frage.
Grundsätzlich ist die von Piketty in den Mittelpunkt seiner Argumentation gerückte Annahme theoretisch plausibel, dass wegen der unterschiedlichen Bestimmungsfaktoren der Realzins r (als abstrakte Rendite, die alles Kapitaleinkommen – wie Zinsen, Gewinne oder Grundrenten – ins Verhältnis zum gesamtwirtschaftlichen Vermögen setzt) höher ist als der reale Zuwachs der Lohnsumme g: Wird r durch Produktivitätsgewinne durch Arbeitsteilung, technischen Fortschritt, Entgelt für Risikobereitschaft und eine Prämie für den Verzicht auf Gegenwartskonsum erklärt, so g durch Lohnverhandlungssystem, Arbeitszeitregime, Beschäftigungsstruktur und Produktivitätstrend. Aus r > g folgt aber nur dann ein Anstieg der Relation von Vermögen zum BIP, wenn die Vermögensbesitzer ihre Erträge vollständig dem Vermögen zuführen und nicht selbst konsumieren, Steuern zahlen, freiwillige Transfers an andere leisten.
Jedenfalls ist es zumindest fragwürdig, auf dieser Basis wirtschaftspolitische Ratschlüsse abzuleiten, wie es Piketty mit dem Werben für eine progressive Besteuerung der Kapitalbestände macht. Er charakterisiert selbst die Forderung als utopische Idee, zumal die Steuer weltweit einheitlich erhoben und das Aufkommen kooperativ verteilt werden sollte. Diese Empfehlung ist für Deutschland ohnehin nicht mit den präsentierten Datensätzen zu begründen. Einerseits verweist Piketty selbst darauf, dass für Deutschland angesichts des „rheinischen Kapitalismus“ und des Stakeholder-Ansatzes – verglichen mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich – die Entwicklung der Vermögens-Einkommens-Relation weniger deutlich und auffällig ist. Und selbst für England und Frankreich zeigen seine Analysen einen undramatischen Verlauf der Lohnquote seit 1980.
Ähnliche Entwarnung signalisieren die Ergebnisse für die deutsche Einkommensverteilung (S. 317, 320 in Pikettys Buch): Sowohl für den Anteil der oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher am Volkseinkommen als auch für die obersten 0,1 Prozent sind die Anteile für Deutschland seit 1950 im Trend stabil, im ersten Fall liegt der Anteil bei elf Prozent, im zweiten bei vier Prozent. Steigende Vermögen in Händen kleiner Gruppen hätten über einen solchen Zeitraum zu entsprechend wachsenden Ungleichheiten in der personellen Einkommensverteilung führen müssen. Tatsächlich haben in Deutschland auch Haushalte mit geringeren Einkommen merkliche Vermögensbestände, wie Analysen des IW Köln belegen. Und: Steigende Beschäftigung, wie sie in Deutschland seit 2005 zu beobachten ist, entspannt die personelle Einkommensverteilung. Dieser Befund ist eindeutig.
Pikettys Buch hat trotzdem – und vor allem in den Vereinigten Staaten – soviel Aufmerksamkeit erhalten, weil es scheinbar die These widerlegt, dass in einer dynamischen Wirtschaft alle mitgezogen werden. Dieser Hinweis gilt angesichts einer geringer gewordenen Aufstiegsmobilität auch für Deutschland. Das verlangt bildungspolitischen Handlungsbedarf. Das aber ist weder neu noch wirklich streitig.
Zum Gastbeitrag auf capital.de
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