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(© Foto: Grecaud Paul - Fotolia)
Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung Gastbeitrag 29. August 2015

Vergesst die Utopie!

Noch immer wird ein politisch vereintes Europa erträumt. Doch das ist nicht machbar, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung. Besser ist es, das Erreichte zu feiern: die Fiskal- und Bankenunion.

Die Debatte über die Rettungsarchitektur für Griechenland führt im fortgeschrittenen Stadium dazu, dass die Argumente geschärft werden, aber man kann auch den Eindruck haben, alles sei irgendwie gesagt und getan. Das erinnert, auch jahreszeitlich passend, an eine Zeile aus einem Abba-Song aus dem Jahr 1981: „When the summer's over and the dark clouds hide the sun, neither you nor I'm to blame when all is said and done.“

Für den Weg nach vorne, für die Frage, wie Europa künftig aussehen soll, hilft es jedenfalls wenig, die argumentativen Schlachten der letzten fünf Jahre erneut zu führen. Zumal es mit dem Wissen von heute ein Leichtes ist, Entscheidungen der Euro-Staaten aus den Jahren 2010 oder 2012 als Fehler zu bewerten. Gerne wird auch übersehen, dass für die eingetretene Krise nichts vorgedacht war, mal abgesehen vom (Irr-)Glauben, die Finanzmärkte würden fiskalpolitisches Fehlverhalten frühzeitig sanktionieren. Die denkbaren Antworten – auch das Nichtstun – widersprachen demnach dem europäischen Regelwerk. Ebenso wenig hilft es, wenn man, wie es Jeffrey Sachs in seinem Essay in dieser Zeitung getan hat, in dem er einen Schuldenschnitt für Griechenland gefordert hat, sich mit verfehlten historischen Vergleichen profiliert und daraus Mythen über die nationale Verantwortung Deutschlands ableitet.

Wichtig ist die Anerkenntnis, dass es die Masterlösung für Griechenland nicht gibt. Alle Alternativen verlangen eine Abwägung: Man muss die plausiblen Erwartungen über die Anpassungsleistungen der Griechen und deren ökonomische Wirkungen miteinander ins Verhältnis setzen. Gewissheiten gibt es nicht, weder für den Erfolg der Krisenpolitik noch über die Wirkung eines Grexit. Wer wie Hans-Werner Sinn in seinem Essay behauptet, das Arbeitsmarktproblem Griechenlands sei nur durch einen Austritt aus der Währungsunion zu lösen, der irrt. Es gibt stets mehrere Optionen, freilich mit unterschiedlichen Preisschildern. Darüber ist zu disputieren.

Das nun verabredete dritte Rettungspaket für Griechenland beruht auf der Einschätzung, dass es letztlich langfristig für Europa angemessener ist, nationale Anpassungsleistungen innerhalb der europäischen Strukturen zu erbringen. Neben ökonomischen Erwägungen, die man zu Recht kritisieren mag, greifen dabei auch politische Überzeugungen, die der Ökonom nicht ignorieren kann.

Zur Geschichte der europäischen Integration gehört seit dem Beginn im Jahre 1951 die Bereitschaft, in extremen Situationen den solidarischen Beistand konditioniert über die Regelbindung zu stellen. Bereits Ende der 1950er Jahre reagierte die Hohe Montanbehörde – ein Vorgängerin der Europäischen Kommission – in dieser Weise, als sie bei der belgischen Kohlenkrise befristet das Beihilfenverbot aussetzte und eine vertraglich nicht vorgesehene Anpassungshilfe auszahlte. Die damaligen Regeln der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl waren nicht tauglich für eine Krise, die für ein Mitgliedsland den Ausnahmezustand bedeutete. Das ist kein Freibrief für den Regelbruch, sollte aber dafür sensibilisieren, dass Regeln den Notstand nicht simulieren können.

Jede Kooperationsstrategie in Europa setzt zwingend voraus, dass bei allem Streit und Hader im Detail die beteiligten europäischen Staaten zur Kooperation bereit sind. Das galt für die Tsipras-Regierung in ihren ersten fünf Monaten nicht. Solange war auch der Ausschluss aus der Euro-Zone ein realistisches Ergebnis. Nun aber liegen die Dinge anders. Es eröffnet sich eine realistischere Chance, dass Griechenland umsteuert, seine Staatsfinanzen nachhaltiger werden und seine Wirtschaft wettbewerbsfähiger wird, wenn Ministerpräsident Alexis Tsipras mit verändertem Mandat nach den Wahlen vom 20. September erneut Regierungschef wird.

Viele bei uns reiben sich die Augen und rufen Verrat. Doch die Anerkennung der Realität darf niemandem verwehrt werden, Lernprozesse sind jedem zuzubilligen. Gerade mit Blick auf die Protestbewegungen in anderen südeuropäischen Krisenstaaten ist der Häutungs- und Wandlungsprozess von Tsipras und der Mehrheits-Syriza bedeutsam. Es bleibt zwar richtig, dass es Alternativen zur jetzigen Krisenpolitik gibt. Doch versprechen diese Alternativen nach heutiger Abwägung keine schnelleren und größeren Erfolge, es sei denn, man hofft irrigerweise, andere würden einen beschenken.

Zweifellos ist der von Griechenland zu gehende Weg lang, und die Schuldentragfähigkeit – verstanden als Rückkehr zum Kapitalmarkt – liegt auch dann in weiter Ferne, wenn die gesamtwirtschaftliche Dynamik deutlich stärker wird. Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln zeigen, dass eine Schuldenstandsquote von 100 Prozent selbst bei reformpolitischer Disziplin und gesamtwirtschaftlicher Dynamik erst um das Jahr 2040 erreicht werden kann. Dies setzt zudem voraus, dass die Rückzahlung der Schulden um rund 20 weitere Jahre gestreckt wird. Eine solche Streckung ist so gestaltbar, dass es nicht zu Verlusten für den Euro-Rettungsschirm und damit die europäischen Steuerzahler kommt. Die Chance, den IWF für das dritte Paket zu gewinnen, dürfte so deutlich steigen.

Die Krisenpolitik beruht auf der Einschätzung, dass es für Griechenland – wie bereits für Irland, Portugal und Spanien – erfolgversprechender ist, als Mitglied der Euro-Zone, und so währungspolitisch auf Augenhöhe mit den Partnern, die Reformen umzusetzen. Es erscheint wenig plausibel, dass ein Austritt angesichts des dann kurzfristig dramatischen Wohlstandsverlustes die Reformbereitschaft der Griechen gestärkt hätte. Eher das Gegenteil dürfte der Fall sein, zumal die Erfahrungen anderer Länder mit Abwertungen alles andere als erbaulich sind. So hat die Abwertung der italienischen Lira 1992 die strukturellen Probleme nur kurzfristig überdeckt, nicht aber gemindert.

Das schlichte Fazit dieser Überlegungen lautet: Man sollte das dritte Hilfspaket für Griechenland konsequent umsetzen, die Rückzahlungsbedingungen strecken und auf die Stärkung der politischen Legitimation für die griechische Regierung setzen. Jedweden Versuchen, mit historischen Bezügen und überhöhter Kritik ein anderes Europa zu schaffen, kann mit Verweis auf die gewaltige Solidarleistung der europäischen Partner und den gewandelten politischen Willen der Griechen entgegen getreten werden.

Die darüber hinaus gehende Frage bleibt aber: Was muss sich in Europa für Europa ändern? Dazu gibt es vielfältige, aus unterschiedlichen Lagern stammende Vorschläge, die darauf setzen, weitere Zuständigkeiten in Europa zu vergemeinschaften. So finden wir einerseits bei jenen, die auf eine Transferunion zielen, die Idee der europäischen Arbeitslosenversicherung. Andererseits empfehlen ordnungspolitisch versierte Politiker einen europäischen Finanzminister oder gar eine Europäisierung der Finanzpolitik. Dass der Ordnungspolitiker damit den Weg zur Transferunion öffnet und sogar legitimiert, wird gerne übersehen.

Solche Vorschläge kommen meist wohlfeil daher, als wäre dies – so oder so – nun der Preis, der für den dauerhaften Erfolg der Währungsunion zu zahlen ist. Dennis Snower hat an dieser Stelle vor kurzem deutlich gemacht, dass es eine europäische Identität noch nicht gibt und es Zeit benötigt, diese zu schaffen. Man kann dies auch als den Mangel einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit, als das Fehlen eines europäischen öffentlichen Raums deuten. Dies aber wiegt schwer – ebenso schwer wie die Bedenken, dass sich bestimmte Zuständigkeiten aufgrund der nationalen Verfassungen nicht vergemeinschaften lassen.

Wer die Griechenland-Krise als Vehikel für eine politische Union nutzen will, der wird scheitern, und zwar an der Realität eines Europas der Nationalstaaten. Denn der Fall des Eisernen Vorhangs vor 25 Jahren hat nicht zu einer transnationalen Struktur Europas geführt. Im Gegenteil erlebt der Nationalstaat geradezu eine Renaissance. Nation und Nationalstaat sind trotz einer Geschichte, zu der Gewalt und Repression ebenso gehören wie der immer wieder erfolgreiche Aufbruch zu Freiheit und Selbstbestimmung, bislang ein unverzichtbares gesellschaftliches und politisches Organisationsmodell.

Die europäische Integration hat dies trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile und Fortschritte nicht verändert. Die Europäische Union beruht auf geteilter Souveränität. Die Krise stellt die Frage neu, wie dies demokratisch legitimiert wird und welche Souveränitätsteilung in Europa hinnehmbar ist. Man kann die Identitätslücke nicht durch politische Institutionen füllen, denen auch noch die demokratische Verankerung fehlt – das schafft Konflikte mit den nationalen Verfassungen und wäre auch ökonomisch nicht tragfähig. Unabhängig davon bleibt die Frage, wie ein europäischer Finanzminister rechtlich legitimiert werden soll, wenn schon die Europäisierung der Finanzaufsicht nicht durch eine Änderung der Europäischen Verträge unterlegt werden konnte.

Wer weitergehen will, der muss den erwartbaren Vorteil klar benennen. Das bedeutet hier und heute Zweierlei: Europa muss erstens mit den neuen Regeln und Institutionen – Fiskalunion, Bankenunion – lernen umzugehen und die darin liegenden Potenziale schöpfen. Wer jetzt panikartig den europäischen Finanzminister fordert, desavouiert das Erreichte und schafft ein verfassungspolitisches Chaos. Die Regeln der Banken- und Fiskalunion sind zunächst ausreichend.

Zweitens sollten die Möglichkeiten einer gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ausgelotet werden. Eine europäische Verteidigungsgemeinschaft – eine eigentlich alte Idee – und eine europäische Flüchtlingspolitik als verlängerte Außenpolitik beantworten drängende politische Themen. Sie schaffen zugleich neue Perspektiven für die Stärkungen europäischer Werte. Das freilich bedarf intensiver Erörterungen.

Hektik ist so oder so nicht angesagt oder wie lautet es in dem Abba-Song: „Standing calmly at the crossroads, no desire to run, there’s no hurry any more when all is said and done.”

Zum Artikel auf sueddeutsche.de

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