Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, beklagt eine starke Ungleichheit in der Republik. Doch ganz so dramatisch ist es nicht. Schon gar nicht ist Deutschland ein geteiltes Land, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung.
Selektive Wahrnehmung
"Deutschland ist heute eines der ungleichsten Länder in der industrialisierten Welt." Wer so startet, der muss viel bieten, wenn er den Eindruck vermeiden will, dass eine auflagenförderliche Skandalisierung das inhaltliche Anliegen überlagert. Erst in den Handlungsempfehlungen wird deutlich, was der Autor eigentlich will - und die sind angesichts des vermeintlich verheerenden Befundes überraschend zurückhaltend. Zusammenfassen lassen sie sich wie folgt: 1. Erhöhung der Chancengleichheit, insbesondere durch Investitionen in frühkindliche Bildung. 2. Effizientere und geringere staatliche Umverteilung - eine Ableitung übrigens, die ob des Befundes, dass die soziale Marktwirtschaft nicht mehr existiere, bemerkenswert ist und in der bisherigen öffentlichen Rezeption des Buches untergegangen zu sein scheint. 3. Unterstützung des Vermögensaufbaus etwa durch Eigenheimförderung und 4. Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt. So richtig zumeist diese Empfehlungen sind - lohnt sich dafür der "Verteilungskampf"?
Anders gefragt: Steht es um die Verteilung - in der politischen Debatte oft gleichgesetzt mit Gerechtigkeit - wirklich so dramatisch, wie in dem Buch postuliert? Zwar ist Deutschland kein Land mit einer ausgeprägt niedrigen Einkommensungleichheit, die Einkommen sind aber gleicher verteilt als im EU- oder OECD-Durchschnitt. Laut Marcel Fratzscher verschleiere diese Betrachtung der verfügbaren Einkommen die ungleichen Resultate, die der Marktprozess in Deutschland herbeiführt und die "der deutsche Staat durch vergleichsweise hohe Steuern und Transferzahlungen teilweise auszugleichen versucht". Er verweist darauf, dass die Markteinkommen in Deutschland gar so ungleich wie in den USA verteilt sind.
Hier unterläuft dem verteilungskämpferischen Autor ein Fehlschluss, denn das liegt nicht in einer mangelnden Chancengleichheit, sondern in der unterschiedlichen Ausgestaltung der Alterssicherung und dem Renteneintrittsalter begründet: Gerade weil die soziale Marktwirtschaft ältere Menschen hierzulande gut absichert, müssen sie nicht mehr arbeiten, ergo Markteinkommen erzielen. Nicht zuletzt aufgrund der geringeren Bedeutung der gesetzlichen Alterssicherung in den USA, arbeiten die Menschen dort im Durchschnitt länger, und müssen dies häufig noch über die Ruhestandsgrenze hinaus tun. Betrachtet man entsprechend lediglich die Markteinkommen der unter 60-Jährigen, dann kommen die USA auf einen Gini-Koeffizienten von 0,47. Deutschland liegt in diesem weltweit gängigen Ungleichheitsmaß mit 0,41 deutlich darunter, nahe dem Niveau der als sozial gerecht gerühmten Länder Norwegen und Dänemark (je 0,39). So schwankt die gesamte Argumentation des Buches bereits am Anfang stark.
Dass soziale Sicherungssysteme Einfluss auf die internationale Vergleichbarkeit von Verteilungsergebnissen haben, zeigt sich genauso bei der Vermögensungleichheit. Laut Erkenntnissen der EZB sind die Vermögen der Deutschen im Vergleich der Euroländer besonders ungleich verteilt, wie Fratzscher moniert. Allerdings werden in diesen Statistiken die Ansprüche gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung nicht berücksichtigt. Der DIW-Chef bemerkt zu Recht, dass dies nur Versicherungsansprüche und keine Vermögen sind. Die allerdings sind durchaus geeignet, Anreize zur Vermögensbildung zu mindern. Dazu passt, dass im Euro-Raum die Nettovermögen des unteren Viertels der Bevölkerung gerade in den Ländern mit hohen Sozialausgaben niedrig sind.
Außerdem hängt die Variation der Vermögensungleichheit stark von der Wohneigentumsquote ab: In Ländern, in denen viele Menschen Immobilien besitzen, ist die messbare Ungleichheit weniger hoch - und umgekehrt. In Deutschland liegt die Quote mit unter 50 Prozent international sehr niedrig, das Vermögen ist entsprechend geringer. Der Vorschlag, Immobilieneigentum gezielt zu fördern, verkennt die deutschen Erfahrungen und die Fehlwirkungen in den USA. Anders als in vielen anderen Ländern verfügt die Bundesrepublik über einen funktionierenden Mietwohnungsmarkt. Da bonitätsschwache Haushalte kein kreditfinanziertes Wohneigentum haben, sind diese relativ gut durch die Finanzkrise gekommen.
Den Schlüssel für die steigende Ungleichheit in Deutschland sieht der Autor in der geringen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mobilität: "Nirgendwo werden die persönlichen Entwicklungschancen so sehr von der Herkunft bestimmt. (. . .) Nirgendwo bleibt Arm so oft arm und Reich so oft reich." Wenn das stimmte, müsste Deutschland bei allen Mobilitätsvergleichen stets auf dem letzten Platz landen - was aber nicht der Fall ist. Sicher ist bei der Aufstiegsmobilität noch Luft nach oben, aber die Bewertung fällt auch hier zu drastisch aus; in Frankreich, Großbritannien oder der Schweiz beispielsweise hängen die Einkommen der Kinder deutlich stärker von den Einkommen der Eltern ab als bei uns. Nirgendwo ist jedenfalls falsch.
So ist das Buch geprägt durch skandalisierende Interpretationen selektiver Befunde. Dass in Deutschland das rechte Maß der Einkommensungleichheit überschritten sei und deshalb das Absenken der Ungleichheit das Wachstum erhöhen könne, wird mit Verweis auf die OECD begründet. Durch die wachsende Ungleichheit sei Deutschland 1990 bis 2010 sechs Prozentpunkte des BIP-Wachstums verlustig gegangen. Nicht zuletzt der Sachverständigenrat hat diese Studie mit ernüchterndem Resultat repliziert - warum diese Erkenntnisse nicht rezipiert wurden, bleibt rätselhaft. In dieselbe Kategorie fällt die Behauptung, das Ausmaß materieller Entbehrung sei in Deutschland im internationalen Vergleich sehr hoch. Den Beleg für diese Dramatik bleibt der Autor dem beunruhigten Leser schuldig, denn laut Daten von Eurostat erreicht die Bundesrepublik beim Maß der "materiellen Deprivation" Rang 7 von 28 - in drei Viertel der EU-Länder leben also mehr Menschen in absoluter Armut als hierzulande.
Bei der Flüchtlingsdebatte schließlich verkeilt sich der Autor in seiner Argumentation. Die wirtschaftlichen Folgen der Flüchtlingszuwanderung "werden vor allem von der Politik zu einem Verteilungskampf hochstilisiert", was die Bevölkerung verunsichere und "eine tiefe gesellschaftliche Spaltung des Landes mit enormer politischer Sprengkraft" herbeiführe. Das ist eine erstaunliche Aussage für ein Buch, das mit der Dramatisierung der Verteilungssituation Gefahr läuft, den Verteilungskampf zu befördern, den es im Titel propagiert.
Deutschland ist kein geteiltes Land, wie der Autor behauptet. Sowohl die Markt- als auch die Nettoeinkommen haben sich seit 2005 wieder angenähert. Genauso hat sich die Vermögensungleichheit seit 2002 nicht erhöht - was auch Daten des DIW zeigen. Ebenso sind die Sorgen um die allgemeine sowie die eigene wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Jahren fortlaufend gesunken, in West und Ost, und das sogar in den unteren Einkommensschichten. Ähnlich ist das Vertrauen in der deutschen Gesellschaft laut dem World Value Survey - anders als in vielen Ländern - angestiegen. So bleibt vor allem der Eindruck der Skandalisierung. Es lohnt den "Verteilungskampf" nicht, wohl aber eine tiefergehende Verteilungsanalyse.
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