Kanzlerkandidat Schulz will die Fehler der Agenda 2010 korrigieren. Die Legitimation hierfür zieht er aus einem Einzelschicksal und nicht aus handfesten Beweisen. Mit solchen Vorgehen verlässt Politik trittsicher den Boden der Fakten, schreibt Michael Hüther in einem Debattenbeitrag auf causa.tagesspiegel.de.
Schulz setzt auf Emotionen statt Fakten
Martin Schulz ist in Not. Als Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat der SPD muss er den sozialpolitischen Traditionskern und die Seele der Partei bedienen, als dienstältestes Mitglied des Parteivorstandes kann er seine positive Begleitung der Agenda-Reformen und ihrer sachgerechten, aber kühlen Veränderungslogik nicht leugnen. Beide politischen Positionen sind in der SPD seit 2005 nicht versöhnt worden. Das mag auch erklären, warum die jetzigen sozialdemokratischen Regierungsmitglieder trotz der konsequenten Umsetzung des Umverteilungsprogramms, das zur Bundestagswahl 2013 vorgelegt worden war, keine entsprechende Reputation aufbauen konnten und Rettung für die Bundestagswahl bei einem scheinbar Außenstehenden gesucht werden muss.
Doch mit der Nominierung von Martin Schulz ist der die Partei zerreißende Konflikt zwischen Tradition und Reform nicht aufgelöst. In dieser Situation ist der programmatische Suchscheinwerfer von Schulz am Arbeitslosengeld I hängen geblieben. Die mit der Agenda 2010 wiederhergestellte, bis 1984 geltende Regelung von grundsätzlich 12 Monaten Bezugsdauer hatte besonders viel Unmut in der SPD ausgelöst. So hat der Kandidat aus der Erzählung eines 50-jährigen Arbeiters in einem Bahnausbesserungswerk in Neumünster seinen bisher einzig differenzierten Vorschlag für das Wahlprogramm seiner Partei gemacht. Das Arbeitslosengeld I soll gebunden an das Recht auf ein Weiterbildungsscreening auf bis zu 4 Jahre verlängert und mit Weiterbildung garniert werden.
Mal abgesehen davon, dass bereits jetzt sich durch Weiterbildung der Anspruch auf Arbeitslosengeld I hälftig verlängert, und ebenso abgesehen davon, dass die Arbeitsmarktforschung die kontraproduktive Wirkung einer verlängerten Bezugsdauer auf die Dauer der Arbeitslosigkeit erweist, ist das Erstaunliche an dem Vorschlag sein Zustandekommen: durch die mögliche, aber nicht belegte Geschichte eines Einzelnen über dessen – wie mittlerweile ermittelt – objektiv unbegründete, allenfalls latente Ängste. Mit solchem Vorgehen verlässt Politik trittsicher den Boden der Fakten und der Analysen zur Realität. An deren Stelle treten Gefühle und Empfindungen, die sich durch ihre Subjektivität gleichsam immunisieren.
So lädt uns Martin Schulz, ob er es will oder nicht, dazu ein, die Gefühle der Referenzperson zu diskutieren und auf ihre Bedeutung hin zu befragen. Das führt freilich zu gar nichts, und fair ist es für die Betroffenen auch nicht. Denn Politik ist nie die Bewältigung des Einzelfalls, sondern das Setzen von Standards, um für die große Mehrheit der Betroffenen eine Besserung zu erreichen. Das aber funktioniert nur, wenn die Lösungen umsetzbar und problemadäquat sind. Beides trifft für den ALG-Q-Vorschlag von Schulz aber nicht zu. Er ist weder sinnvoll noch adressiert er ein gesellschaftlich relevantes Problem. Jede Verlängerung der Bezugsdauer setzt falsche Anreize und verfestigt die Arbeitslosigkeit.
Für den Kanzlerkandidaten hat es dennoch den großen Vorteil, über die gefühlige Hinwendung zu einem als typisch empfundenen sozialdemokratischen Schicksal jene Emotion zu mobilisieren, die weder mit der Rente mit 63 noch mit dem Mindestlohn zu locken war. Wenn das so weiter geht, werden wir uns auf eine ganze Reihe von Einzelschicksalen einzustellen haben, deren Gemeinsamkeit in der Zufälligkeit ihrer Begegnung mit Martin Schulz liegt. Neben der leichteren Emotionalisierung hat es den Vorteil, sich sowohl persönlich als auch politisch von den gerne geschmähten Experten und Eliten distanzieren zu können. Doch indem damit Sachverstand grundsätzlich diskreditiert wird, verliert Politik die Möglichkeit, ihn in anderen Kontexten nutzen zu können.
Ähnlich fragwürdig ist die Kritik der Elite, zu der Schulz seit fast 20 Jahren selbst gehört. Jede gesellschaftliche Formation bedarf zu ihrer politischen und ökonomischen Gestaltung jener Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Rolle, ihrer intellektuellen Potenz, ihrer ökonomischen Relevanz oder ihrer politischen Legitimation besondere Verantwortung erlangen. Das Entscheidende der Demokratie ist nicht die Abwesenheit der Eliten, sondern die Bestreitbarkeit ihrer Positionen. Bildungsinvestitionen erweisen sich gerade auch unter diesem Gesichtspunkt als höchst bedeutsam. Die fast durchweg schlechteren Ergebnisse sozialdemokratisch regierter Bundesländer in diesem Kontext sollten Schulz auf den Plan rufen.
Schließlich: Die sachlich nicht zu begründende Einführung eines ALG-Q hat den schädlichen Nebeneffekt, von den eigentlichen Problemen am Arbeitsmarkt abzulenken. Die liegen in der verhärteten Arbeitslosigkeit bei Beziehern von Grundsicherung (ALG II). Die hier zur Verfügung stehenden Finanzmittel sind zu gering, die Betreuung durch die Jobcenter ist unzureichend und durch Fehlanreize für die Vermittler belastet. So lautet die gesellschaftliche Herausforderung, für solche Lebenssituationen angemessene Antworten durch mehr Geld und mehr Zeit der Arbeitsverwaltung zu finden. Durch deutlich größere Erfolge beim ALG II würde man zugleich die latenten Ängste der ALG I-Bezieher entkräften.
Zum Gastbeitrag auf causa.tagesspiegel.de
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