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(© Foto: Svetlana Ivanova - Fotolia)
Michael Hüther auf zeit.de Gastbeitrag 10. Oktober 2014

Gefangen in Illusionen

Die Schuldenkrise ist Vergangenheit – zumindest für Frankreich und Italien, schreibt IW-Direktor Michael Hüther auf zeit.de. Beide Länder haben immer noch nicht verstanden, dass sie ihre Probleme selbst lösen müssen.

Man könnte meinen, es ist wie immer, als sei nichts passiert: Frankreich und Italien streiten mit der EU-Kommission über ihren Staatshaushalt. Frankreich, dessen Schuldenquote bei 96 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegt, wird sein Defizit erst 2017 und nicht wie vorgesehen 2015 unter die Drei-Prozent-Marke bringen. Italien unterschreitet die Marke zwar seit 2013. Die italienische Schuldenquote ist aber mit 134 Prozent sehr hoch. Um sie zu senken, müsste das Land über Lange Zeit Überschüsse erzielen.

Die Argumente der beiden Regierungen, warum es nicht gelingen kann, die Vorgaben der EU zu erfüllen, sind ebenso bekannt wie verbraucht. Man dürfe sich nicht kaputtsparen, bei schwächelnder Konjunktur dürften die Defizite schon gar nicht verringert werden. Und überhaupt: Damit es gelingen kann, müssen andere helfen, und zwar die Europäische Zentralbank mit dauerhaft niedrigen Zinsen und das finanziell robustere Deutschland mit starker Importnachfrage.

Das Rollenverständnis der Finanzpolitik ist auch nach anderthalb Jahrzehnten gemeinsamer europäischer Währung und trotz der Erfahrung mit der Staatsschuldenkrise sehr unterschiedlich in Europa. In Frankreich und Italien ist man der Auffassung, dass der Staat eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben spielen muss und dass man sich nicht rechtfertigen muss, wenn Kredite tatsächlich oder vermeintlich für gute Zwecke aufgenommen werden.

Für Italien verband sich mit der europäischen Integration seit Anbeginn die Erwartung, den tiefen wirtschaftlichen Graben zwischen dem prosperierenden Norden und dem Mezzogiorno über Transfers aus Brüssel überbrücken zu können. Das hat lange Zeit so funktioniert. Durch die Währungsunion wurden diese Geldleistungen, die zuvor schon infolge der Osterweiterung reduziert worden waren, durch den Reputationstransfer aus Deutschland – genauer von der Bundesbank – ersetzt.

Das niedrigere Zinsniveau, das sich für Italien bereits auf dem Weg zum Euro einstellte, wurde nie zur Sanierung der öffentlichen Haushalte eingesetzt, sondern verteilungspolitisch genutzt. Mit der Staatsschuldenkrise ist offenbar geworden, dass diese Handlungsoption nicht mehr besteht. Da aber die politischen Strukturen und die staatlichen Leistungsversprechen unverändert sind, muss nun der große Wurf gelingen. Oder man hofft auf andere.

Die französische Regierung unter Mitterand verband mit der Währungsunion die Hoffnung, den strukturell wirtschaftlich übermächtigen Nachbarn im Osten endlich einhegen zu können. Man sprach von der deutschen Atombombe, die man vergemeinschaften wollte, und man meinte die Deutsche Mark. Tatsächlich hat sich die Währungsunion für Deutschlands Wirtschaft positiv ausgewirkt. Abwertungen standen europäischen Partnern nicht mehr zur Verfügung, zugleich erreicht der Euro als Weltwährung eine größere Stabilität. Frankreich jedenfalls musste lernen, dass die gemeinsame Währung die Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur und der Wettbewerbsfähigkeit nicht ausgleichen konnte, sondern vielmehr weiter verstärkt hat.

Die Hoffnungen haben Illusionen darüber genährt, was man zu Hause alles unterlassen und wie sehr man die Mahnungen aus Brüssel als irrig brandmarken kann. Jetzt wird alles viel mühsamer und viel langwieriger. Es droht eine lange Gefangenschaft in der eigenen Vergangenheit. Darin lieg freilich auch eine Hoffnung. Denn indem deutlich wird, dass weder die Europäische Zentralbank noch Deutschland helfen können, erhöht sich der Druck, endlich mit den nötigen Reformen anzufangen. Die Themen liegen auf der Hand: Arbeitsmarkt, Investitionsklima, Steuersystem – kurz: die Verbesserung der volkswirtschaftlichen Angebotsbedingungen.

Mit Premier Valls und Ministerpräsident Renzi verfügen beide Staaten jedenfalls über politische Führungskräfte, die erstmals erkennen lassen, dass es um mehr geht als um die Sanierung des öffentlichen Haushalts. Am Ende geht es um eine Haltungsänderung in der Gesellschaft, die über Jahrzehnte von den erwähnten Hoffnungen geprägt wurde. Deshalb müssen auch Fragen der Governance angegangen werden; Verfassungsfragen in Italien, Entwicklung der Sozialpartnerschaft in Frankreich. Pathologisches Lernen ist nicht unbedingt angenehm, aber – so lehrt die Erfahrung – durchaus effektiv.

Zum Gastbeitrag auf zeit.de

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