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Michael Hüther in der WirtschaftsWoche Gastbeitrag 10. März 2023

Für eine Kultur der Reziprozität

Der öffentliche Raum als Umschlagplatz des Wissens und Ort des politischen Streits schrumpft. Viele Menschen begegnen einander nur noch in Echokammern, ziehen sich ins Homeoffice zurück, treten den Rückzug ins Private an. So geht es nicht. Gefragt ist eine Renaissance urbanen Marktlebens, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche.

Der öffentliche Raum ist eine zentrale Steuerungsinstitution, die das vielfältige alltägliche Miteinander der Menschen als Staatsbürger, soziale Wesen und Wirtschaftsakteure prägt. Die Demokratie manifestiert sich als "Wagnis der Öffentlichkeit" (Hannah Arendt) so gut wie in deliberativen Verfahren, willkürfreien Prozeduren und freien Wahlen. Es geht um zugangsoffene Foren der Kommunikation und dynamische Räume des Meinungsaustausches. Es geht um eine dezentrale, innovative und über Märkte getriebene Wirtschaftsordnung, die belebt wird von der Dichte und Mannigfaltigkeit der Arbeits-, Wissens- und Risikoteilung: Öffentlichkeit und öffentlicher Raum ermöglichen den politischen Streit der besseren Argumente, sind der Ort der Vermittlung und Gestaltung des Alltags sowie des ökonomischen Austauschs.Das Problem: Der öffentliche Raum droht aufgrund einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Trends zu schrumpfen. Fernbeeinflussung durch Bots und Fake News, digitale Verhaltens- und Vorliebensteuerung durch staatliche und private Algorithmen, Individualisierung und Identitätsegoismus, Komplexitätszunahme und Eindeutigkeitssehnsucht - das sind die Stichworte. Hinzu kommt die Erfahrung der Covid-19-Pandemie: Ein gesellschaftliches Leben ohne analoge Öffentlichkeit scheint möglich. Auch zeichnen sich Nebenfolgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ab, die die Organisation des öffentlichen Raumes betreffen. Die Verteidigungsfähigkeit wird massiv gestärkt, ein kollektiver Widerstandswille außen- und sicherheitspolitisch formuliert - ein übergeordnetes Nationalinteresse politisch adressiert.

Die gesellschaftlichen Trends, die Pandemieerfahrung und die russische Aggression gefährden gleichermaßen den öffentlichen Raum als Ort der Kommunikation und des Gesprächs, der Positionsbestimmung und der Aushandlung, des Streits über Interessengegensätze und der Konfliktlösung. Die Gefährdung zeigt sich erstens durch die Überforderung des gesellschaftlichen common sense of interest (David Hume) durch die Verengung der Identitätsidee auf die subjektive Existenzwahrnehmung (Identitätsegoismus). Sie zeigt sich zweitens im forcierten Rückzug in die Privatheit. Und drittens in der Neubewertung kollektiver Prioritäten infolge der "Zeitenwende".

„Gesellschaftlicher Protest gründet heute nicht selten auf einer wissenschaftlichen Schattenwelt, die sich mit dem Argument gegen Kritik imprägniert, vom 'Mainstream' marginalisiert und diskriminiert zu werden”

Besonders symbolhaft für das Schrumpfen des öffentlichen Raumes steht sicher die Konjunktur der Heimarbeit. Hier kommen ein extremer Rückzug in die Privatheit und die Vermischung der Lebenssphären Arbeit/Freizeit, öffentlich/privat zum Ausdruck. Wir erleben die Abkehr vom öffentlichen Raum und einer dominanten Kultur der Präsenz - das Alltagskonzept der Moderne. Und wir erleben die (Wieder-)Einkehr in das technisch ertüchtigte "ganze Haus" (Otto Brunner) - das Alltagskonzept der präindustriellen Vormoderne.

Damit rücken die historischen Voraussetzungen und die systematischen Bedingungen des öffentlichen Raums in den Mittelpunkt: Offenkundig kommen Märkten und Städten - als Orten der Vielfalt und Diversität - eine herausragende Bedeutung für ihre Entstehung zu. Beide Sphären gesellschaftlichen Lebens - die deliberative Demokratie so gut wie die innovative Marktökonomie - sind aber nicht nur historisch an Agora und Marktplatz, an städtische Lebensräume und verdichteten Handel, an urbane Kultur und organisierten Warenhandel (Messen) gebunden. Sondern es ist auch so, dass Städte die Maschinenräume und Laboratorien der Moderne sind.

Urbanisierung charakterisiert moderne Gesellschaften und grenzt die Lebenswirklichkeit der Moderne gegenüber früheren Welten ab. Agglomeration und Fühlungsdichte im menschlichen Miteinander sind politisch und ökonomisch wirksam, weil jederzeit latent vorhanden. Städte definieren und verankern die Ordnung des Lebens im Raum und fungieren als innovationsspeiende "Vulkane der Ökonomie" (Herbert Giersch). So wird deutlich, was auf dem Spiel stehen kann, wenn Städte sozial und wirtschaftlich an Bedeutung verlieren. Die Covid-19-Pandemie war insofern ein Antimodernisierungsschock: Die höfliche Distanz, mit der die Menschen einander täglich begegneten, belebte den öffentlichen Raum nicht mehr, sondern war der exakte Ausdruck seines Verschwindens.

Grundzüge einer Ordnung des fairen Austauschs  

Die Abkehr von der Öffentlichkeit und die Rückkehr in die Privatheit sind deshalb so beachtenswert, weil sie auf ein bereits zuvor wahrgenommenes Unbehagen an der Moderne einzahlen. Gesellschaftliche Spaltungen, die sich entlang der Globalisierungswirkungen zwischen "Gewinnern" und "Verlierern" herausgebildet haben, vertiefen sich - denn ohne eine geteilte Öffentlichkeit gehen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen Gelegenheiten für Kommunikation und gemeinsame Erfahrungen, das Gespür für eine geteilte Lebenswelt verloren.

Wir brauchen daher neue Formen gesellschaftlicher Vermittlung und wechselseitiger Bezugnahme, um dem Einzelnen im öffentlichen Raum jene Stabilität und Sicherheit zu offerieren, die er zur Ausgestaltung seiner Individualität benötigt. Oder andersherum: Die Privatheit kann nur dann ihr Versprechen als Zufluchtsort erfüllen, wenn die Modernisierungsgewinne der Öffentlichkeit - institutionelles Vertrauen als Bedingung für die Selbstermächtigung des Einzelnen - gesichert sind. Der Mangel an gesellschaftlich verbindenden Narrativen muss daher adressiert und Akzeptanz für die elementare Bedeutung des demokratischen Streits vitalisiert werden.

Was das im Einzelnen bedeutet? Nun, die offene Gesellschaft, die alle Formen der Arbeitsteilung, Wissensteilung und Risikoteilung repräsentiert und prämiert, kann keine Abstriche bei grundrechtslegitimierten Identitätswünschen machen. Aber sie muss das Geben und Nehmen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft im Auge behalten: Die offene Gesellschaft lebt von einem wechselseitigen Überforderungsverbot.

Grundsätzlich spielt die Zivilgesellschaft für eine Kultur der Mitverantwortung eine zentrale Rolle: direkt durch die Herstellung und Repräsentation von Öffentlichkeit - und indirekt dadurch, dass sie der zunehmenden Heterogenität der Lebenssituationen in offenen Gesellschaften sowohl Ausdruck verleiht als auch Rechnung trägt.

Eine deliberativ legitimierte, willkürfrei durchsetzbare Rechtsordnung sollte unverrückbar auf den einzelwirtschaftlichen Grundsätzen Privateigentum, Vertragsfreiheit und Haftung basieren. Wird das effektiv implementiert (und damit eine Ordnung des fairen Austauschs überzeugend), kann eine Kultur der Reziprozität entstehen, die den Gedanken der Mitverantwortung aufnimmt und stärkt.

Man könnte etwa neue Formate des Austauschs zwischen Parlament und Zivilgesellschaft testen, die ähnlich den Beteiligungsformaten bei Investitionsprojekten einen geordneten Diskurs jenseits der Fachanhörungen ermöglichen. Damit erhielte die von John Rawls postulierte staatsbürgerliche Pflicht, anderen zuzuhören und damit die Voraussetzung für wechselseitige Anerkennung zu schaffen, einen erweiterten Raum.

Die zentrale Rolle des Parlaments muss gesichert und durch seine Öffnung zum zivilgesellschaftlichen Diskurs unterstützt werden: Herrschaftsfreier Streit gehört zu den geordneten Verfahren der repräsentativen Demokratie - wie sonst soll pragmatische und dialogische Vermittlung funktionieren?

Räume für den Streit sollten daher bewusst erweitert und gestaltet werden, um die Vielfalt der Themen und Interessen sich begegnen zu lassen. Das kann das Parlament allein nicht bewältigen. Neue zivilgesellschaftliche Routinen, Foren und konzertierte Aktionen können dabei helfen.

Gesellschaftlicher Protest gründet heute nicht selten auf einer wissenschaftlichen Schattenwelt, die sich mit dem Argument gegen Kritik imprägniert, vom "Mainstream" marginalisiert und diskriminiert zu werden. Man könnte prüfen, gezielt Forschungsgeld für die transparente Evaluierung solcher Positionen bereitzustellen: Eine ernsthafte Wahrnehmung vermag womöglich, das Feld "alternativer Wahrheiten" auszutrocknen, einen geteilten Sinn für den Wert des Meinungsstreits und die Erträge der Wissenschaft zu stärken.

Gefragt ist ein urbanes Marktleben unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts, sind Städte als Umschlagplätze des Wissens und der Verständigung, als Knotenpunkte weltweiter Netze und Motoren (über-)regionaler Entwicklungen. Die dialogische Vermittlung gesellschaftlichen Streits hat nur eine Zukunft in gesicherter Öffentlichkeit - und umgekehrt.

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