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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 29. November 2013

Ein weltweites Phänomen

Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, schreibt im Handelsblatt über seine Beobachtung, dass es länderübergreifend schwieriger wird, Krisen zu steuern.

Die globalen Perspektiven verheißen aktuell wie in näherer Zukunft keine besondere Dynamik. Geschuldet ist dies der Finanzkrise und den Staatsschuldenkrisen ebenso wie den Versuchen der Remedur. Indes erklärt dies alles die gedämpfte weltwirtschaftliche Fantasie nur unvollständig. Bei näherer Betrachtung zeigen sich in den dominierenden Regionen der Weltwirtschaft - Europa, USA, Japan und Bric-Staaten - tiefgreifende Probleme der politischen Steuerung.

Die Euro-Zone kritisch zu beäugen, wo sich europäische Geldpolitik und nationale Finanzpolitik in einem fundamentalen Steuerungskonflikt befinden, ist mittlerweile stete Übung. Die verschärften Budgetregeln, die engere Überwachung der nationalen Haushalte durch die Kommission und die Schaffung eines Krisenfonds werden jedoch auf lange Sicht das verfassungsrechtlich Mögliche sein. Daraus folgt, dass es nunmehr darum geht, diese Regeln auch anzuwenden und zu klären, inwieweit Konfliktpotenziale eingehegt sowie tatsächliche Konflikte bewältigt werden können. Die Debatte um mehr Europa versus nationale Kompetenz hat gerade erst begonnen.

Dass nicht allein die Euro-Zone von substanziellen Steuerungsproblemen geprägt ist, erleben wir durch den Budgetkonflikt in den Vereinigten Staaten, wenngleich dieser sich in einem etablierten Verfassungsrahmen vollzieht. Die US-Verfassung unterstellt jedoch die grundsätzliche Bereitschaft aller Akteure im Kongress wie im Weißen Haus zum Konsens; Aushandlungsprozesse müssen letztlich zum Erfolg führen. Ein "government shut down" ist in den USA zwar nichts Außergewöhnliches, allerdings ist seit Mitte 2011 nur eine fortlaufende Vertagung und keine grundlegende Lösung des Problems zu verzeichnen.

Die widerstreitenden Interessen beider großen Parteien werden forciert durch das Erstarken der politischen Ränder. Seit Mitte der neunziger Jahre ist eine Verhärtung der ideologischen Fronten zu registrieren, und sie scheint in Zeiten von Obamacare und Tea-Party unüberwindbar. Nun sind solche politischen Entwicklungen kaum nachhaltig, wenn sie nicht auf grundlegende gesellschaftliche Verwerfungen reagieren. Nicht ohne Grund sorgen sich in den USA konservative wie liberale Intellektuelle um den Verfall der inneren, wertefundierten Bindung ihrer Gesellschaft.

So thematisiert der neokonservative Charles Murray in "Coming Apart, The State of White America 1960 - 2010", den Niedergang der weißen Mittelschicht und den Zerfall der Gesellschaft in separate Klassen, weil verbindende Werte wie Familie, Religiosität, Fleiß und Ehrlichkeit an Kraft verloren haben. Entsprechend argumentiert auch Michael Sandel, Mitbegründer der kommunitaristischen Strömung, in "What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets", dass funktionsfähige demokratische Gesellschaften eines gemeinsamen Erfahrungsraums für ihre Mitglieder bedürfen.

Die Ableitungen aus diesem Befund sind grundverschieden und schärfen sich im politischen Konflikt: Einerseits werden mit Verweis auf die negativen gesellschaftlichen Folgen der wohlfahrtsstaatlichen Reformen der Johnson-Ära weitere staatliche Verantwortung und Intervention abgelehnt, andererseits wird geworben, die bestehende sozialpolitische Ummantelung der Gesellschaft auszubauen, um so den Gemeinsinn zu stärken. Die jeweils angenommenen Ursachen des gesellschaftlichen Zerfalls bestimmen die konträren Lösungen: mehr individuelle Verantwortung oder mehr Staat?

Andere Bedingungen herrschen in Japan. Das Land leidet seit 15 Jahren unter der Deflation, deren Ende sich jetzt abzeichnen könnte. Zusätzlich bedroht nun die Abschaltung der Atomkraftwerke die Wettbewerbsfähigkeit, wie umfangreiche Verlagerungen von Produktion und Beschaffung ins Ausland zeigen. Der Bedarf an strukturellen Reformen ist groß, der politische Wille unzureichend. Die wirtschaftliche Agonie dürfte bei der Alterung und der Staatsverschuldung länger anhalten.

In den Bric-Staaten hingegen herrschen tiefgreifende politische Konflikte, weil die realen Entscheidungsverfahren nicht mehr den gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen entsprechen. Alle vier Staaten sind durch ein hohes Maß an Korruption und damit unvermeidbar ineffiziente Bürokratien geprägt. Beides verursacht rechtliche Unzuverlässigkeit und politische Unberechenbarkeit. Solche Funktionsdefizite bringen zum Ausdruck, dass die Entwicklung der Staatlichkeit dem Fortgang marktwirtschaftlicher Öffnung unter den Bedingungen der Globalisierung nicht standhält. Im Ergebnis wird die gesamtwirtschaftliche Produktivität geschwächt, weil die Verteilungskonflikte nicht angemessen gelöst werden.

Bei allen Unterschieden in Ausgangssituation und Wirtschaftsstruktur ist es auffällig, wie sich die Probleme im Ergebnis gleichen. Die Bric-Staaten stehen sämtlich vor der Herausforderung, ihre Institutionen den gewandelten Anforderungen anzupassen und letztlich die existierende politische Machtverteilung infrage zu stellen - was Fragen der politischen Legitimation und Organisation einschließt. Unruhen, auf den Straßen ausgetragene Konflikte sowie eine beachtliche organisierte Kriminalität lassen erkennen, dass die bestehenden Strukturen nicht zukunftsfähig sind.

In Brasilien sind die Stabilisierungseffekte des marktwirtschaftlich orientierten Plano Real von 1994 aufgebraucht und durch einen staatskapitalistischen Dirigismus mit protektionistischer Grundhaltung überlagert worden. Öffentliche Verschwendung, marode Infrastruktur, hohe Inflation, unzureichende Investitionen, niedrige Sparquote, ein desolates Bildungssystem und Einkommensverluste der Mittelschicht sind die Folgen, die zu einem tiefen Misstrauen gegen die Wohlstandsversprechen der Politik geführt haben. Deren Hilflosigkeit wurde angesichts der Abwertung sichtbar.

Russland lebt von Rohstoffexporten; es ist von der "holländischen Krankheit" bedroht, indem der Warenexport leidet und der Inlandskonsum künstlich belebt wird. Der öffentliche Sektor expandiert und bedrängt private Unternehmen. Das politische System schafft nicht die Voraussetzungen für verlässliche Investitionsbedingungen, die für den Wandel der Wirtschaftsstruktur erforderlich sind. Zudem belastet ein schwach entwickeltes Bankensystem die private Investitionstätigkeit, die Kapitalallokation ist ineffizient.

Indien erlebt derzeit, dass die Schwächen eines einseitigen Geschäftsmodells - Dienstleistungen ohne Industrie bei hohem Rohstoffimport - über die außenwirtschaftliche Rückwirkung zurückschlagen: Die Direktinvestitionen sinken, und die Währung steht unter Abwertungsdruck. Kapitalverkehrskontrollen und Importbeschränkungen für Gold sind kein Ausweis einer marktwirtschaftlichen Orientierung; die Staatsbürokratie ebenso wenig. Anhaltende Streiks spiegeln die Unfähigkeit der politischen Klasse zur Kurskorrektur, die politische Steuerung von 1,2 Milliarden Menschen steht auf dem Prüfstand.

In China überdenkt die Führung das Entwicklungsmodell, findet aber auch mit dem Dritten Plenum des 18. Zentralkomitees keine Antwort, die politische Reformen einschlösse. Die Korruption ist endemisch, die Staatskonzerne sind hypertroph, das Bankensystem harrt einer umfassenden Liberalisierung, die Provinzregierungen zeigen Auswüchse von Tyrannei, und die faktische Rechtlosigkeit der Wanderarbeiter (Hukou-System) schafft gewaltige soziale Probleme. Völlig unklar ist, wie die politische Struktur für 1,3 Milliarden Menschen insbesondere mit Blick auf die Macht- sowie Rollenverteilung zwischen Peking und den Provinzen aussehen wird.

Diese Skizzen verdeutlichen, dass alle großen Volkswirtschaften mit Problemen der politischen Steuerung konfrontiert sind. Die Anlässe sind unterschiedlich, die tiefer liegenden Ursachen nicht. Stets drückt die Frage, wie in einer Welt intensiven ökonomischen und institutionellen Wettbewerbs die Verantwortung zwischen Privat und Staat angemessen geteilt und wie die Verteilungsfolgen der Globalisierung sozial akzeptabel aufgefangen werden können.

Dies verlangt einerseits glaubwürdige demokratische Strukturen und Institutionen, andererseits die Einsicht, dass man auf Dauer gut beraten ist, die Logik freiheitlicher Märkte intensiv im Rahmen staatlicher Daseinsvorsorge zu nutzen, um mehr Chancen für alle zu schaffen.

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