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Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung Gastbeitrag 5. Oktober 2013

Ein Europa der Nationen

In der Schuldenkrise fordern viele eine rasche Vergemeinschaftung bis hin zu einer politischen Union, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung. Aber Mitverantwortung kann sich nur dezentral entfalten.

Nach der Bundestagswahl hoffen manche auf einen neuen Ansatz in der europäischen Krisenpolitik: laxere Konsolidierung, großzügige Investitionsprogramme. Und natürlich läuft es meist auf die Forderung nach einer politischen Union hinaus, die alles Unvollkommene der EU heilt. Doch diese Perspektive überzeugt nicht, weil sie tief liegende Gründe nationaler Differenzierung übersieht. Denn eine Gesellschaft lebt auch von der Mitverantwortung des Einzelnen und der darin zum Ausdruck kommenden Haltung für das Gemeinsame. Das kontrastiert mit dem verengten Verantwortungskonzept, das in der Ökonomik dominiert.

So wird in der Marktwirtschaft nicht nach den Motiven der Akteure gefragt. Das hat einen großen Charme, weil es die Gesinnung hinter die Verantwortung stellt und nur darauf achtet, Gesetze, Ordnungen und Verträge einzuhalten (Verantwortungsethik). Die Freiheitsgesellschaft lebt von der Kompetenz des Einzelnen, für sich Entscheidungen zu treffen und die Folgen zu verantworten. Damit der dafür bedeutsame Eigennutz seine schädlichen Wirkungen nicht entfalten kann, bedarf es des intensiven Wettbewerbs mit einer wirksamen Enteignungsandrohung durch den Markt.

Doch es greift zu kurz, Verantwortung auf Haftung zu reduzieren und die Gesinnung ordnungspolitisch insofern auszublenden, als sie für die Haltung des Einzelnen im Alltag und seine Mitverantwortung für das Gemeinsame steht. Denn mit Verweis auf das Zusammenspiel von Freiheit, Eigennutz und Wettbewerb sind zentrale Fragen nicht zu beantworten. Woran richten wir unser Handeln und Unterlassen aus, wenn ein Rekurs auf explizite Regeln nicht möglich ist? Was gibt uns Orientierung, wenn wir 'ohne Geländer' (Hannah Arendt) denken und urteilen müssen? Wie entstehen Mitverantwortung und Gemeinsinn? Das verlangt eine Haltung des Einzelnen, die konstruktiv auf die guten Sitten und die Üblichkeiten einer Gesellschaft Bezug nimmt.

Es geht darum, dass wir vertrauen können, und zwar sowohl auf die Fairness sowie Angemessenheit der Institutionen und Regeln als auch auf das alltägliche Fairplay der anderen im öffentlichen Raum, kurz auf ihren guten Willen. Die marktwirtschaftliche Ordnung lebt davon, dass die Kosten des Vertrauens geringer sind als die Kosten des Misstrauens.

Das Vertrauen wiederum lebt von der Hoffnung auf Kooperationsbereitschaft bei den anderen. Kooperation bedeutet, Mitverantwortung zu tragen, weil man durch den Verzicht auf Extrempositionen und kurzfristige Vorteile zur Stabilität des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems beiträgt. Es gibt eine innere Logik des Marktgeschehens, Sitten zu entwickeln, welche die Kosten der Wissens-, Arbeits- und Risikoteilung und des Tauschs spürbar verringern: Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Fairness. Doch allein der Markt und die dort mögliche Kooperationserfahrung reichen nicht aus, um Mitverantwortung zu generieren.

Nun wissen wir aus vielen Untersuchungen, dass der Mensch genetisch durch Einübung über Jahrtausende grundsätzlich kooperationswillig ist. Für die Frage, welche Werte uns leiten, bietet Karl Jaspers mit den Grenzsituationen des Lebens eine ertragreiche Argumentation an. Grenzsituationen können wir nicht ändern, sie können nicht von uns übergangen werden: die Todesaussicht, eine schwere Krankheit, ein Leiden, eine große Schuld oder ein Versagen. In Grenzsituationen sind wir mit den letzten Fragen des Lebens konfrontiert, was uns zugleich auf die anderen hoffen lässt und auf deren prinzipielle Mitverantwortung verweist. Grenzsituationen lassen uns in besonderer Weise den Wert der Kooperation, des reziproken Miteinanders erkennen, denn 'no man is an island, entire of itself' (John Donne im Jahr 1624).

Die bisherigen Überlegungen weisen der Mitverantwortung eine explizitere und höhere, wenn nicht sogar entscheidende Bedeutung für die Gestaltung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu. Die gelebte Mitverantwortung begründet das Kooperationspotenzial, darin spiegelt sich die Tradition und Kultur einer Gesellschaft, kurz die historische Besonderheit des nationalen öffentlichen Raums. Daraus folgt, dass die konkrete Ausgestaltung einer Wirtschaftsordnung sehr stark davon abhängt, ob und inwieweit Mitverantwortung sich wirklich entfalten kann. Doch wie viel Raum lassen die Globalisierung und der daraus resultierende institutionelle Wettbewerb für nationale Differenzierung?

Tatsächlich schreibt die Globalisierung nicht nur eine Geschichte der Angleichung von Institutionen und Strukturen, sondern ebenso eine Geschichte der Differenzierung. Trotz aller Liberalisierung, Privatisierung, Marktöffnung und Internationalisierung folgen zentrale Bereiche wirtschaftlicher Tätigkeit nationalen Mustern und Üblichkeiten. Ebenso wie sich Wirtschaftsstrukturen infolge der Globalisierung nicht zwingend angleichen, gilt dies bei national bewährten Institutionen. Offenkundig ist nicht nur der institutionelle Wettbewerb nur begrenzt wirksam, sondern auch das kollektive Lernen über Staatsgrenzen hinweg so leicht nicht.

Die unterschiedliche Bedeutung von Mitverantwortung und Kooperationsbereitschaft differenziert die Institutionen einer Volkswirtschaft. Eindrucksvoll lässt sich dies an der auch nach mehr als 60 Jahren europäischer Integration nicht kompatiblen Ausprägung der Sozialpartnerschaft in Deutschland und Frankreich veranschaulichen. Ähnliches gilt für die duale Berufsausbildung, die heute als deutsches Angebot für die Krisenländer positioniert wird. Bereits Ende der Achtzigerjahre hat es in Spanien Pilotversuche gegeben, die erfolglos blieben, weil die Unternehmer zu den von ihnen zu erbringenden Investitionen nicht bereit waren. Ihre Haltung war aus Erfahrungen begründet, die den Staat in der Verantwortung sahen.

Ökonomische Analysen verweisen zur Erklärung auf Transaktionskosten als Ursache der teilweise erstaunlichen Differenzierung nationaler wirtschaftlicher Zusammenhänge und Institutionen. Das aber berührt nur die Oberfläche denkbarer Wirkungszusammenhänge. Denn die vielfältige und stabile Präferenz für heimische Lösungen in Zeiten globaler Märkte ver-weist auf kulturelle Prägungen. Die viel gerühmte kulturelle Vielfalt Europas greift tatsächlich über diesen Bereich weit hinaus auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und differenziert die Nationen.

Kulturelle Prägungen mit historischem Grund, die sich in der Haltung von Individuen spiegeln, sind keine Privatsache. Sie benötigen Öffentlichkeit und sie prägen den öffentlichen Raum. Nationalstaaten als organisierte und abgesicherte öffentliche Räume tragen die Souveränität und damit den Rahmen für demokratische Prozesse, Strukturen und Legitimation. Anders gewendet: Der Nationalstaat als Ausdruck politischer Rationalisierung im 18.und 19. Jahrhundert hat heute weder seine Bindungswirkung noch Orientierungskraft verloren.

Mitverantwortung, öffentlicher Raum und Volkssouveränität bilden unverändert einen konsistenten Zusammenhang, der nationalstaatlich gefasst wird. Damit gewinnt für die Gestaltung transnationaler Strukturen wie der Europäischen Union das Subsidiaritätsprinzip eine besondere Bedeutung. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags über die Europäische Union hat es die Qualität eines Rechtsgrundsatzes. Allerdings war schon in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl von 1951 davon die Rede, dass die Gemeinschaft nur eingreift, wenn es die Umstände erfordern.

Viele Jahrzehnte ging es in Europa darum, in den spezifischen Handlungsbereichen der Integration eine Zuständigkeitsvermutung sowohl für die europäische Ebene als auch für die nationalen Regierungen und Parlamente zu definieren. Heute geht es um die sehr viel grundsätzlichere Frage nach dem künftigen Organisationsprinzip für die Union, derzeit als Staatenverbund mit föderativen Elementen eingeordnet. Insbesondere die Staatsschuldenkrise in der Euro-Zone hat dazu geführt, dass die Spannung zwischen europäischer Geldpolitik und nationaler Finanzpolitik einer Antwort bedarf, die über die Regelungen des Maastrichter Vertrages sowie des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hinausgeht.

Vielen politischen Bewertungen zu den institutionellen Reformen - Fiskalvertrag, Sixpack, Twopack, Europäischer Stabilitätsmechanismus, Euro-Plus-Pakt - liegt die These zugrunde, dass dies alles (also die realisierte Fiskalunion) nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Politischen Union sei. Doch es bleibt stets unscharf, was damit gemeint ist. Die Begründung für dieses Integrationsziel wird in der gemeinsamen Währung gesehen, nicht in einem originären Integrationsbedarf des Politischen. Damit gerät aus dem Blick, welchen eigenen, welchen spezifischen Bedingungen eine politische Union unterliegt. Die Europäische Union bildet keinen öffentlichen Raum, ihr fehlt die Öffentlichkeit des Gemeinsamen im umfassenden Sinn der Lebenswirklichkeit, und das hängt nicht nur an der Sprachenvielfalt.

Der Grundsatz der Subsidiarität gewinnt im Lichte der Mitverantwortung als ordnungspolitischer Kategorie eine zusätzliche Legitimation, wenn es um die Organisation des Politischen geht. Die auf europäischer Ebene zunehmend zu beobachtende Tendenz, den Rechtsgrundsatz der Subsidiarität nicht als Schutzrecht der unteren Ebene, sondern als Eingriffsrecht der obersten Ebene zu verstehen, birgt die Gefahr einer schleichenden Erosion der nationalen Zuständigkeiten und der dort gelebten Mitverantwortung.

Dieses Risiko wird auch nicht durch den Verweis überrollt, dass die einheitliche Geldpolitik eine weitere Stärkung Europas erfordert. Denn die erreichten institutionellen Änderungen haben eine Fiskalunion geschaffen, die die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten der Mitgliedsstaaten ausschöpft. Zugleich sind die gefundenen Lösungen angemessen, um die Lehren aus der Staatsschuldenkrise zu ziehen. Die Vereinigten Staaten von Europa sind indes eine Schimäre.

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