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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 14. März 2012

Die neue Ökonomik braucht Werte

Die Wirtschaftswissenschaftler können nach der Krise nicht zur Tagesordnung übergehen, schreibt IW-Direktor Michael Hüther im Handelsblatt. Sie müssen sich öffnen für neue Methoden und zugleich Farbe bekennen, wo sie stehen.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise und die Staatsschuldenkrise haben das Ansehen der ökonomischen Wissenschaft schwer beschädigt. Die herrschende Lehre in der Ökonomik hat die Krise weder vorhergesagt noch erklärt. Noch schlimmer ist, dass sie Mitschuld an den Fehlentwicklungen trägt, die zu der Krise geführt haben. Das gilt insbesondere für die neoklassische Finanzmarkttheorie, die zwar die Institutionen des Finanzmarktes nicht erklären kann und will, aber vehement behauptet hat, dass sich auf den Finanzmärkten jederzeit faire Preise bilden, egal wie riskant die dort gehandelten Produkte sind. Zugleich hat die Ökonomik gravierende Erkenntnislücken offenbart, vor allem hinsichtlich des Zusammenwirkens von Finanzsystem, industrieller Arbeitsteilung und Welthandel. Auch ist das viel zitierte "systemische Risiko" nach wie vor eher ein leerer Begriff als ein theoretisch durchdrungenes Konstrukt.

Nun geht es hier nicht um Anklage und Vorwurf, sondern um die Frage, wie die Ökonomik auf ihre Versäumnisse und Fehler am sinnvollsten reagieren sollte. Notwendig ist eine differenzierte, konkrete Kritik des ökonomischen Mainstreams, ohne ihn gleich völlig zu verwerfen. Doch wer für eine solche Haltung plädiert, der gerät schnell von zwei Seiten unter Beschuss: einmal von den Vertretern des neoklassischen Mainstreams, die sich gerne mit Hinweis auf ihre Methodologie gegen Kritik immunisieren. Sie sehen den Fortschritt in Gefahr, den sie durch die Formalisierung wirtschaftlicher Abläufe ohne Zweifel erreicht haben. Auf der anderen Seite fordern Vertreter anderer methodischer Ansätze, die neoklassischen Modelle komplett zu verwerfen. Sie sehen meist nur den jeweils eigenen Ansatz als zukunftsfähig an.

Diese unversöhnlichen Positionen machen eines sichtbar: Sprachlosigkeit herrscht nicht nur zwischen den verschiedenen Disziplinen vom gesellschaftlich bedeutsamen Handeln des Menschen, wie der Soziologie und der Ökonomik, sondern ebenso zwischen den verschiedenen Schulen innerhalb der ökonomischen Zunft. Doch das führt zu nichts. Die Fundamentalkritiker müssen die Frage beantworten, was nach der Neoklassik kommen soll. Gerne wird da die Verhaltensökonomik als überzeugender Kandidat genannt. Sie meint, den Kern neoklassischer Theorie zu treffen, indem sie den zweckrationalen, eigennutzorientierten Homo oeconomicus infrage stellt. In der Tat muss dieser Idealtypus vom Menschen, der die neoklassischen Modelle bevölkert, stark verkürzt wirken, wenn man ihn an der Realität misst.

Dennoch ist eine Kritik, die den Idealtypus mit dem Realtypus konfrontiert, methodisch fehlgeleitet. Es geht vielmehr um die Frage, ob der Idealtypus auf sinnvolle Weise theoretische Ableitungen ermöglicht. Der Homo oeconomicus ist bei stabilen Präferenzen am Eigennutz orientiert, reagiert auf Anreize und handelt darauf bezogen rational, wenn er unter den gegebenen Bedingungen und bei vollständiger Information seinen eigenen Nutzen respektive Gewinn maximiert. So werden komplexe Entscheidungs- und Handlungszusammenhänge auf einen Kern reduziert und isoliert. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt darin, die für gesamtwirtschaftliche Analyse notwendige Aggregation vornehmen zu können. Diesen Vorzug des Homo oeconomicus muss man bei aller berechtigten Kritik im Auge behalten.

Die eigentliche Herausforderung zeitgemäßer Ökonomik besteht darin, dass sie sich für den Austausch mit anderen Disziplinen öffnen muss. Zu Recht hat Thomas Straubhaar darauf vor kurzem hingewiesen. Bei der Reform der Wirtschaftswissenschaften geht es um Methodenvielfalt, nicht um einen Paradigmenwechsel. Nimmt man sich die vielen Beschränkungen des Idealtypus vor, dann eröffnen sich die Pfade der Weiterentwicklung. So führt die Bindung ökonomischer Erkenntnis an Raum und Zeit zur wirtschaftshistorischen und wissenschaftsgeschichtlichen Analyse. Die Würdigung der Kosten des Marktmechanismus, der Verfügungsrechte und vertragstheoretische Überlegungen führen zur Institutionen- und Ordnungsökonomik. Oder die Erweiterung des Konzepts individuellen Vorteils und die Berücksichtigung psychologischer Erkenntnisse bereiten den Weg zur Verhaltensökonomik.

Doch vor allem muss sich jeder, der an einer Modernisierung der Ökonomik arbeitet, über eines im Klaren sein: Es ist naiv, zu glauben, dass eine Ökonomik mit größerer gesellschaftlicher Relevanz ohne Werturteile zu betreiben wäre. "Werturteile sind - in Fragen der Wirtschaftspolitik - unvermeidbar", sagte schon Herbert Giersch.

Daher müssen wir folgende Kernfragen beantworten: Welches Bild vom Menschen legen wir zugrunde? Und welche Kraft messen wir der gemeinsamen Verpflichtung auf Freiheit und Verantwortung zu?

Ein Ökonom kann diesen Fragen nicht ausweichen, wenn er Politik und Gesellschaft relevante Antworten geben will. Das gilt auch und gerade für die Verhaltensökonomik. Wir brauchen darum einen offenen Diskurs über die normativen Grundlagen. Oder mit den Worten Gierschs: "Es ist besser, gleich Farbe zu bekennen und zu erklären, wo man im Spannungsfeld der Werte steht."

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