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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 27. April 2018

Die Chance auf ein gutes Leben

Verantwortliche Reformen statt sozialpolitischer Irrlichter, fordert IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag im Handelsblatt.

Verantwortliche Reformen statt sozialpolitischer Irrlichter, fordert Michael Hüther.
Nach dem Koalitionsvertrag ist vor weiteren sozialpolitischen Forderungen. An dieses Motto erinnert man sich angesichts der Forderung nach einem "solidarischen Grundeinkommen" - das aber nichts als ein ebenso altbekanntes wie wenig erfolgreiches Instrument der Arbeitsmarktpolitik ist. Das Signal indes reicht weit, es scheint so, als sollte die Grundsicherung radikal umgebaut werden.

Der Vorschlag erweckt zudem durch seine begriffliche Nähe zum "bedingungslosen Grundeinkommen" den Eindruck einer grundsätzlich anderen Sozialstaatsphilosophie. Abkehr von den Arbeitsmarktreformen also just dann, wenn ihre Erfolge nur aus Ahnungslosigkeit oder Böswilligkeit zu leugnen sind?

Die Debatte ist fatal, denn die Grundsicherung für Erwerbsfähige ist grundsätzlich wirksam und angemessen. Einzelne Fehlentwicklungen gilt es abzustellen; aber Deutschland braucht keinen Aufbau eines sozialen Arbeitsmarkts. Die Evaluationsforschung zu den Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsförderung - auch eine Errungenschaft der Hartz-Reformen - beweist, dass sie sinnvoll sind. Diese Ergebnisse leichtfertig zu ignorieren ist unverantwortlich.

Vor allem aber wird dadurch der Blick auf die spezifischen Handlungsnotwendigkeiten verstellt, die sich selbst angesichts der stark verbesserten Arbeitsmarktlage deutlich zeigen: Berechtigte - oder teilweise auch nur gefühlte - Abstiegsängste insbesondere der unteren Mittelschicht; Perspektiven für Menschen mit multiplen Risiken, insbesondere Langzeitarbeitslose; Chancen für Alleinerziehende; Fragen der Altersarmut.

Wo stehen wir? Die Menschen hierzulande wollen arbeiten, und zwar eher mehr als weniger. Arbeit dient der Lebenssicherung, schafft die Voraussetzung für soziale Integration und sozialen Aufstieg. Hannah Arendt hat das ganze Spektrum menschlicher Tätigkeit in ihrem wunderbaren und klugen Buch "Vita Activa" mit dem Dreiklang aus Arbeiten, Herstellen und Handeln beschrieben.

Arbeiten und Herstellen

Die Mitgestaltung des öffentlichen Raumes beruht zwar direkt auf dem Reden und Handeln jenseits der Privatheit, doch sie wird erst dann möglich, wenn durch Arbeiten und Herstellen die elementaren Voraussetzungen für alle erfüllt sind. Die unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist deshalb auch eine herausragende Ungerechtigkeit, mit tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Folgen.

Nicht zuletzt deshalb sind die Fortschritte am Arbeitsmarkt so bedeutsam: Die Erwerbsbeteiligung der Menschen im Alter von 25 bis 64 liegt bei 80 Prozent gegenüber nur 69 Prozent zur Jahrtausendwende.

Deutschland hat damit gegenüber den traditionellen Spitzenreitern in diesem Bereich, Schweiz und Skandinavien, aufgeholt - auch wenn die durchschnittliche Jahresarbeitszeit pro Kopf wegen geringerer Jahresarbeitsstunden in Vollzeit und eines höheren Teilzeitanteils weiter geringer ist. Die Arbeitslosigkeit liegt bei fünf Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit konnte in der vergangenen Dekade von 16 auf unter acht Prozent mehr als halbiert werden.

Der deutsche Sozialstaat ist sehr leistungsfähig. Das Gegenteil zu behaupten heißt nicht nur, sich den entsprechenden Daten zu verweigern, sondern auch, unser Sozialsystem zu diskreditieren.

Schaut man auf die Verteilung der verfügbaren Einkommen, ist das Bild allerdings etwas gemischt: Von Anfang der 1990er-Jahre bis zum Jahr 2005 gab es eine Verschlechterung, seitdem ist die Lage jedoch stabil. Das gilt für alle der entsprechenden Indikatoren: den Gini-Koeffizienten der verfügbaren Einkommen, die Armutsgefährdungsquote (ohne Migration), die Bedeutung der Mittelschicht und den Anteil des Niedriglohnsektors.

Es bleibt die Frage, warum angesichts des eindrucksvollen und konstant anhaltenden Beschäftigungsaufbaus nur eine Stabilisierung dieser Indikatoren gelang. Hier zeigen sich die schwierige Integration von Personen aus längerer Arbeitslosigkeit und der stillen Reserve ebenso als Erschwernis wie die Wettbewerbsfolgen der Globalisierung und die steigende Wissensintensivierung, nicht zuletzt infolge der digitalen Transformation.

Die Chance der deutlich verbesserten Arbeitsmarktlage, die sich nach den derzeit vorliegenden Prognosen jedenfalls in den kommenden zwei Jahren weiter aufhellen wird, besteht darin, dass die spezifischen Probleme, die sonst leicht überdeckt werden und für die dann die Ressourcen kaum ausreichen, nun ernsthaft angegangen werden können.

Konsequent fördern

Die Diskreditierung der Hartz-Reformen hat ihren Anteil daran, dass sich viele Menschen potenziell in ihrer Einkommenslage bedroht sehen. Dagegen hilft der Mindestlohn kaum, wohl aber ein konsequentes Fördern im Fordern, wodurch das Risiko der längeren Arbeitslosigkeit für jeden erkennbar weiter vermindert werden kann. Interessanterweise sind die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage selbst in den unteren Einkommensschichten so niedrig wie seit 1990 nicht.

Dennoch gilt, dass die Perspektive der Aufstiegsmobilität im Einkommen und im Status, bezogen auf das Teilhabeversprechen unserer Gesellschaft, zu häufig fehlt und Bedrohungsgefühle politisch wirksam werden. Während einerseits die Divergenz zwischen der deutlich verbesserten Einstiegsmobilität und der stockenden Aufstiegsmobilität bedrückt, belastet andererseits die unspezifische Bedrohungskulisse, die mit Blick auf die digitale Transformation aller Lebensbereiche diskutiert wird.

Allzu leicht wird übersehen, dass das, was unstreitig auch von allen politischen Kräften als Fortschritt bewertet wird - wie der autonom fahrende Bus - , sehr konkrete Sorgen bei denen auslösen muss, die - um im Beispiel zu bleiben - als Busfahrer tätig sind.

Dazu kommt eine steigende Altersarmut infolge unterbrochener Erwerbsbiografien.  Nach Berechnungen des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF steigt der Anteil der Personen mit Grundsicherung im Alter von drei Prozent auf fünf Prozent, andere Berechnungen sehen einen Anstieg auf sieben Prozent.

Aber: Weit über 90 Prozent werden auch künftig nicht betroffen sein. Die Arbeitsmarktintegration bewahrt grundsätzlich vor der Altersarmut. Genauso gilt aber auch: Wer in Teilzeit gearbeitet hat, der wird im Alter keine Vollzeit-Rente realisieren.

Eine Herausforderung bleibt die verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit - trotz der beachtlichen Reduzierung von 1,9 auf 0,9 Millionen Personen seit dem Jahr 2006.  Menschen in dieser Situation weisen häufig multiple Risiken auf, was entsprechend differenzierte Antworten erfordert. Einfacher sind dagegen die Lösungen zu finden, die der Lebenssituation Alleinerziehender Rechnung tragen - die trotz aller Anstrengungen häufig überfordert sind.

Was kann getan werden?

Erstens wäre es schon ein Gewinn, würden beim Arbeitslosengeld 2 die gesetzlichen Versprechen bezüglich der Betreuungsrelation eingehalten werden.  Erst dadurch kann das Fördern das Fordern systematisch ergänzen. Wichtig ist auch, auf mehr Konsistenz beim Verlauf der marginalen Entzugsraten zu achten, wenngleich dies angesichts der Vielgestaltigkeit der Sozialleistungen leichter gesagt als getan ist.

Zweitens muss sich reguläre Arbeit lohnen und das Einkommen für Tätigkeiten in Vollzeit im Regelfall zum Lebensunterhalt ohne Grundsicherung ausreichen.

Drittens sollten wir die Mahnungen der OECD ernst nehmen und die hohe Steuer- und Abgabenlast im unteren Einkommensbereich reduzieren.

Viertens müssen frühkindliche Betreuung und Bildung verlässlich verfügbar sein.  Dazu bedarf es konsistenter Zeitstrukturen in den weiterführenden Schulen.

Fünftens sollte Altersarmut dadurch adressiert werden, dass das Arbeitsvolumen gesteigert, die Beschäftigungsfähigkeit durch Weiterbildung und Gesundheitsmanagement gesichert und so Brüche in der Erwerbsbiografie vermieden werden.

Aktives Menschenbild

Generell gilt: Um konsistent und wirksam zu sein, muss der Sozialpolitik und der Arbeitsmarktpolitik ein aktives Menschenbild zugrunde liegen. Die Chancengerechtigkeit trägt die Annahme in sich, dass der Einzelne verantwortlich handlungsfähig ist, seine Freiheitsberechtigung keine Schimäre ist.

Die faire Chance auf ein gelingendes Leben setzt allerdings gleichfalls eine effektive soziale Absicherung unabdingbar voraus. Das aber rückt erneut grundsätzlich die Erwerbszentrierung in den Mittelpunkt der Debatte und begründet auch die Absage an ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Deutschland hat im Unterschied zu vielen anderen Ländern den großen Vorteil einer aktiven und belastbaren Sozialpartnerschaft. Sie bietet auch im hundertsten Jahr ihrer Begründung die Chance, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bearbeiten und flexible Lösungen zu entwickeln.

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