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Michael Hüther in der Zeit Gastbeitrag 21. Januar 2016

Der unbemerkte Wandel

Das Land hat sich längst stärker verändert, als manche es wahrhaben wollen. Diesen Vorsprung müssen wir ausnutzen, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in seinem Gastbeitrag für die Zeit.

Deutschland irritiert seine Nachbarn und zugleich sich selbst. Da gibt es einerseits das überragende bürgerschaftliche Engagement und den guten Willen zur Integration von Flüchtlingen. Da hat andererseits die Silvesternacht in Köln bei etlichen Menschen Zweifel geweckt, teils sogar eine neue Welle der Gewalt erzeugt. Mehrere Studien aus jüngster Zeit bestätigen jedoch, dass die meisten Deutschen die Vielfalt bejahen und gleiche Rechte für Angehörige von Minderheiten fordern.

Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist robust, die Zahl der Beschäftigten hoch. Doch ökonomischer Erfolg bewahrt nicht automatisch vor sozialen Spannungen und politischer Reaktion. Das zeigen nicht nur die Ereignisse rund um die Silvesternacht, sondern es belegt auch beispielhaft der Blick nach Polen. Gemessen an der Aufnahme- und Integrationsbereitschaft vieler Nachbarländer, sind Umfang und Intensität des gesellschaftlichen Engagements hierzulande eindrucksvoll.

Jetzt, da die Debatte an Schärfe zunimmt, sollten wir uns daran erinnern: Der positive gesellschaftliche Wille hat es der Politik ermöglicht, die gesetzlichen Regelungen für Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge mit einer 180-Grad-Drehung in kürzester Zeit auf Integration umzustellen. Der politische Pragmatismus, der vor ideologischen Traditionsbeständen nicht haltgemacht hat und zu einer faktisch veränderten einwanderungspolitischen Sichtweise führt, spiegelt das pragmatisch-positive Integrationsklima in der Gesellschaft.

Wir haben es mit zwei erstaunlichen Prozessen zu tun: der anhaltenden wirtschaftlichen Stabilität und einer beachtlichen gesellschaftlichen Offenheit. Doch woher rührt der ökonomische Fortschritt trotz verschärfter Wettbewerbsbedingungen durch Globalisierung und Digitalisierung? Woher rührt der Gewinn an Bürgerlichkeit, der den Interessenausgleich in spannungsvollen, verunsichernden Zeiten immer noch besser als andernorts ermöglicht?

Seit der Jahrtausendwende hat sich - jenseits der öffentlich dominierenden Agenda 2010 - in einer relativ engen Zeitspanne ein gesellschaftspolitischer Paradigmenwechsel vollzogen. Er speist sich aus einer Vielzahl gesetzlicher Änderungen sowie politischer Initiativen und ist in der Gesamtheit weit mehr als deren Addition. Es ist eine schleichende Revolution, bislang unbemerkt und versteckt in Einzelthemen. Im Zuge des Flüchtlingszustroms zeigt sich diese grundlegend veränderte gesellschaftliche Disposition. Die Reformen entsprangen zwar keiner umfassenden Agenda, sondern sehr konkreten Anlässen und spezifischen Motiven. Dennoch haben sie einen gemeinsamen Nenner: eine Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens, die mehr Potenziale, mehr Offenheit und mehr Vielfalt schafft.

Es hat viele gesellschaftspolitische Wegmarken seit der Jahrtausendwende gegeben, sie alle aufzuführen fehlte hier der Platz. Sie finden sich in den Bereichen Bildung und Weiterbildung ebenso wie bei der Regelung von Migration und Beschäftigung. Diversität und Gleichstellung wurden verbessert, und es wurde viel dafür getan, dass sich Familien- und Berufsleben besser miteinander vereinbaren lassen. Bürgerschaftliches Engagement wurde durch zahlreiche Gesetze und Initiativen erleichtert - und diese Liste lässt sich fortführen.

Im Bereich der Bildung war vor allem der Pisa-Schock für Deutschland heilsam. Zur Erinnerung: Bei der ersten Studie 2000 fand sich das Bildungsland Deutschland nur auf einem der mittleren Ränge wieder. Seitdem hat die Bildungspolitik wieder einen höheren Stellenwert bekommen und ist heute der Bereich mit den höchsten Ausgabenzuwächsen. Lange Zeit undenkbar, aber der Ausbau von Ganztagsschulen wurde zu einem bestimmenden Trend.

Auch auf den demografischen Wandel hat Deutschland reagiert. Die seit Langem bekannte Überforderung des Umlageverfahrens durch eine alternde Bevölkerung führte zu zwei folgerichtigen Ableitungen: Einerseits wurde das Umlageverfahren systematisch durch eine kapitalgedeckte private sowie die betriebliche Altersvorsorge ergänzt. Andererseits wurden Frühverrentungsanreize abgebaut, das effektive Rentenalter dem gesetzlichen wieder angenähert und das Rentenzugangsalter herauf-gesetzt. Die Perspektive des längeren Arbeitens in einer Welt des (immer) längeren Lebens wurde gesellschaftlich akzeptiert. Inzwischen hat sich die Einschätzung der "gewonnenen Jahre" durchgesetzt, daran wird auch der Irrweg der abschlagsfreien Rente mit 63 Jahren nichts ändern.

Den Paradigmenwechsel zu einem der liberalsten Einwanderungsregime überhaupt hat letztlich im Jahr 2000 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeleitet. Er hatte vorgeschlagen, eine Greencard für Menschen mit gesuchten Schlüsselqualifikationen einzuführen. Danach ging es schnell weiter: Einwanderung ist heute auch unabhängig von einem vorliegenden Arbeitsvertrag und einer Vorrangprüfung denkbar, allein weil die Kompetenzen der Person eine gute Beschäftigungsprognose erlauben. Bekannte Hürden beim Zugang zum Arbeitsmarkt - wie die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und die Mindesteinkommensgrenzen für eine Jobaufnahme - wurden spürbar abgesenkt.

Die Arbeitswelt wird auch deswegen bunter, weil die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften weit vorangeschritten ist, die Diskriminierung von Lebensentwürfen sanktioniert wird und die Inklusion Behinderter in das Beschäftigungssystem rechtlich weiter gefördert wird. Auch das reflektiert die veränderten unternehmerischen Anforderungen sowie eine größere Akzeptanz unterschiedlichster Lebensstile. Die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren hat die gesellschaftliche Realität verändert, Deutschland steht besser da als die meisten anderen OECD-Mitgliedsländer.

Flankiert wird die Strategie durch eine bevölkerungsorientierte Familienpolitik. Sie ist konsequent daran ausgerichtet, die Lücke zwischen der gewünschten und der tatsächlichen Geburtenrate zu schließen. Das Elterngeld als Lohnersatzleistung, der Ausbau der Betreuungsinfrastruktur für unter dreijährige Kinder und einige andere Maßnahmen haben dazu beigetragen. Dass nun die Geburtenraten wieder steigen, ist auch als genuiner Erfolg der Familienpolitik zu werten. Die "Rabenmutter" ist im gesellschaftlichen Diskurs auf dem Rückzug.

Um die große Zahl der gesellschaftlichen und individuellen Veränderungen und neuen Perspektiven aufzufangen, werden bürgerschaftliches Engagement und eine funktionierende Zivilgesellschaft immer bedeutsamer. Nur so lässt sich der gesellschaftliche Zusammenhalt sichern, lassen sich auf breiter Ebene die Bedingungen für ein gelingendes Leben schaffen.

Die Modernisierung der Gesellschaft hat nicht nur längst begonnen. Sie ist bereits sehr weit fortgeschritten und hat zugleich eine elementare ökonomische Bedeutung bekommen. Eine Gesellschaft, die den Wandel annimmt und sich dabei öffnet, verschafft wirtschaftlichem Handeln bessere Standortbedingungen. Eine solche Gesellschaft passt zum marktwirtschaftlichen Rhythmus. Die ökonomischen Effekte und die verteilungspolitische Stabilisierung der gesellschaftlichen Mitte haben den Wandel trotz seiner tabubrechenden Qualität durchsetzbar gemacht. Mit der Flüchtlingskrise kommt der Test auf Robustheit: Halten wir aus, was wir verändert haben?

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