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IW-Direktor Michael Hüther
Michael Hüther im Tagesspiegel Gastbeitrag 21. März 2020

Der jetzige Ausnahmezustand lässt manche auf den Untergang des Kapitalismus hoffen

Doch sie vergessen: Die klar regulierte Marktwirtschaft ist der Motor für Innovation, und Freiheit der Inhalt von Politik, kommentiert IW-Direktor Michael Hüther im Tagesspiegel.

Die Corona-Krise führt Gesellschaft, Politik und Wirtschaft auf für unsere Generation völlig unbekanntes Terrain. Der Stillstand des öffentlichen Lebens ist für die lebende Generation ohne Beispiel. Manche deuten ihn als ein großes, beinahe willkommenes globales Experiment der Entschleunigung. Es entstünden neue Chancen für Fantasie und Kreativität, für die Entdeckung anderer Lebensweisen, kurzum und zugespitzt: für den Abschied vom globalen Kapitalismus. Es handelt sich um eine scheinbar plausible Geschichte, wie sie auch von Caroline Fetscher im Tagesspiegel-Beitrag „Was geht, wenn alle wollen“ (17. März 2020) bespielt wurde – eine Geschichte freilich, die bei näherer Betrachtung schnell an Eingängigkeit und Stimmigkeit verliert.

Der optimistische Grundton solcher Erzählungen lebt von einer elitären Ignoranz gegenüber den vielfältigen lebensnahen Sorgen, die sich den Menschen jetzt um Gesundheit, Arbeitsplatz, Einkommen und Vermögenslage aufdrängen. Diese Ängste und die Versorgung der Risikogruppen, die es in jeder Familie gibt, schrumpfen wie jede andere Lebenssituation zur Petitesse, wenn man sie an der Größe der klimapolitischen Herausforderung und der Apodiktik einer Greta Thunberg misst.

Doch kann das die frohe Botschaft sein, die in der gegenwärtigen Krise zur Besinnung auf andere und neue Lebensweisen animiert? Sicher nicht. Eine solche Sicht beruht auf der Grundannahme, dass unsere Wirtschaftsordnung letztlich verwerflich sei, unter anderem, weil sie Probleme nicht zu lösen vermag und ethischer Begründung sowie moralischer Perspektive ermangele.

Soziale Marktwirtschaft ist nicht losgelöst von der Demokratie

Die Corona-Krise bietet Gelegenheit mit besonderer Verve vorzutragen, was man lange schon erzählt hat: Jene Systemkritik an der marktwirtschaftlichen Ordnung, die einerseits von der Persiflage als „erbarmungsloser Marktlogik“ mit einer ungebremst aufgehenden Schere zwischen Arm und Reich lebt und andererseits übersieht, dass die Soziale Marktwirtschaft als Ordnung der Freiheit ohne Demokratie weder theoretisch noch historisch nachhaltig denkbar ist.

Westliche Demokratie und Marktwirtschaft beruhen auf der gleichen Wertebasis, wie sie durch Aufklärung und Französische Revolution für die Selbstermächtigung der Bürger geprägt wurde. Das ordnungspolitische Gebot des starken Staates für die Rahmung der Marktwirtschaft hatte bereits im Jahr 1932 Alexander Rüstow, einer der Väter unseres Wirtschaftsmodells, beschrieben.

Die deutsche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung mit hoher Innovationskraft, ausgebautem Wohlfahrtsstaat, eingeübter Sozialpartnerschaft und dualer Berufsausbildung ist der überzeugende Beleg dafür, dass auch in Zeiten intensiver globaler Arbeitsteilung und technologischen Fortschritts ein anhaltender Beschäftigungsaufbau mit guten Löhnen gelingen kann. Wer jetzt die Corona-Entschleunigung zur Chance erklärt, der entwertet all diese Möglichkeiten individueller Entwicklung. Und er verkennt, dass es bei uns im transatlantischen Westen niemals um einen Markt ohne Staat, sondern immer nur um eine demokratiekonforme Marktwirtschaft geht – und auch gegangen ist.

Zur ordnungspolitischen Perspektive auf die Marktwirtschaft gehört unbestritten die Einsicht, dass sich globale Umweltprobleme nur über umweltpolitische Regulierungen, Steuern und Zertifikatlösungen angehen lassen werden. Es muss effiziente Lösungen geben, denn in der ökonomischen Theorie sind diese Probleme Ausdruck unregulierter Knappheit von Ressourcen oder einer Übernutzung von Umweltmedien und Umweltsenken. Jedenfalls ist die Findigkeit des „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren“ (Friedrich August von Hayek) gefragt.

Der staatlich klar regulierte Markt ist das effizienteste System der Anpassung

Aktuell zeigt sich, wie wichtig dafür privates Kapital ist, wenn man die Forschungsanstrengungen vieler pharmazeutischer Unternehmen weltweit betrachtet. Der Markt löst zwar nicht aus sich heraus alle Probleme, doch bei klarer staatlicher Orientierung und Regulierung bietet er das effizienteste System der Anpassung. Das Streben nach Lösungen, die anderen Menschen helfen, ist der Antrieb unserer Marktordnung; nicht die nackte Gier, die versucht, jedweder Haftung zu entgehen.

Wer jetzt den Ausnahmezustand zur neuen Normalität erhebt, der verkennt nicht nur die enorme Bedrohung für viele Lebenssituationen, sondern predigt im Grunde, dass der totale Staat die Lösung sein könnte. Offen wird darüber selten gesprochen von denen, die die ihnen angemessen erscheinenden Lebensweisen zur Norm für alle erheben wollen.

Der eloquente Vortrag über Wachstumsrücknahme (De-Growth) endet stets dort, wo der dafür nötige Verlust an Freiheit und den Bedarf an staatlichem Zwang dagegenzustellen wäre. Der Ausnahmezustand ist die Stunde des Staates, auch jenseits vieler Gesetze, aber nur, weil es vorübergehend dessen bedarf. Deshalb setzt die Verfassung für den Fall der Fälle zurecht hohe Hürden.

"Extinction Rebellion" geht leichtfertig mit Freiheitsrechten um

Es fällt schmerzlich auf, wie leichtfertig von führenden Vertretern von „Fridays for Future“ und erst recht von „Extinction Rebellion“ mit den Freiheits- und Bürgerrechten umgegangen wird. Es gehe ja schließlich um das große Ganze. Da mutiert die Corona-Krise zur politischen Chance, denn sie zeige ja, „was geht, wenn alle wollen“. Schon die Formulierung ist irreführend. Denn in einer solchen Notlage müssen alle gleichermaßen reagieren, von „wollen“ kann da kaum die Rede sein.

Diese ideologische Verdrehung geht auch darüber hinweg, dass in dieser Situation der Staat – unsere Demokratie – zeigt, was wirksames Handeln zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger ist. Er ist auf verantwortliche Weise handlungsfähig.

Zum Gastbeitrag im Tagesspiegel

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