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Michael Hüther in Deutschland und die Welt 2030 Gastbeitrag 15. November 2018

Chancen für eine dritte Globalisierung: Ausbruch aus der Erschöpfung

Die wirtschaftliche Lage im Jahre 2030 wird wesentlich dadurch bestimmt, ob es gelingt, unsere Globalisierung aus der Erschöpfung zu befreien und Perspektiven für eine inklusive (dritte) Globalisierung zu eröffnen, schreibt IW-Direktor Michael Hüther einem Aufsatz in „Deutschland und die Welt 2030“.

Der Blick in die Zukunft ist derzeit von besonderer Attraktivität und besonderer Herausforderung. Denn immer weniger scheint fortschreibungsfähig, immer mehr wird fragwürdig: im Technischen, im Ökonomischen, im Sozialen und im Politischen. Neuerungen, Enttäuschungen, Brüche von Entwicklungen, Erosion von Gewissheiten, Unbestimmtheiten, Führungsverluste, neuartige Konflikte haben einen Erwartungsraum geöffnet, der offenkundig nicht durch Erfahrungen, Tendenzen, Trends oder Pfadabhängigkeiten erfasst, beschrieben oder verortet werden kann.

Identitätszweifel und Orientierungsmangel

Die große Geschichte der Freiheit, die mit dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs weltweit zum Hoffnungswert wurde und stets eine sowohl politische als auch ökonomische Komponente besaß, hat ihre Selbstverständlichkeit gerade wegen ihrer unbegrenzten Aufdringlichkeit und des Gefühls einer in der Ferne verursachten Fremdbestimmung verloren. Identitätszweifel und Orientierungsmangel dominieren zunehmend gesellschaftliche Diskurse und politische Debatten. Der Versuch, aus dieser Situation neue Perspektiven zu gewinnen, muss auf der Einsicht beruhen, dass die Globalisierung als Treiber unseres wirtschaftlichen Erfolges einer normativen Vergewisserung bedarf. Denn die Selbstverständlichkeit einer westlich geprägten Globalisierung ist ebenso wenig haltbar wie die Vorstellung einer wertfreien, rein markttechnisch begründeten globalen Wirtschaft. Die Treiber der Weltwirtschaft für ein Deutschland im Jahre 2030 müssen darüber verortet werden.

Einerseits verbinden sich in der Fragwürdigkeit der Gegenwart bereits vor längerer Zeit ausgerufene Epochenwechsel: Postmoderne (Jean-François Lyotard 1979), Krise des Wohlfahrtsstaates (Jürgen Habermas 1985), Postdemokratie (Colin Crouch 2005). Andererseits wirkte als Auslöser die Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008/09. Sie wurde als gesellschaftliche Katastrophe und Überdehnung der politischen Möglichkeiten gedeutet, da sie ihre Ursache in einem Wirtschaftssystem habe, das globalisierungsgeformt den Maßstäben der Menschlichkeit entrückt sei, das Primat der Ökonomie einfordere und alle Lebenszusammenhänge mit einem geheiligten Eigennutz codiere.

Schließlich entstand aus dieser Gemengelage der Eindruck, eine zentrale Funktionalität unserer Epoche – friedlich, effizient und effektiv Koordinationsleistungen zu erbringen – werde in Zweifel gezogen, weil das Aufstiegsversprechen der Marktwirtschaft nicht mehr trägt. Tatsächlich hat sich in der Zeit seit der Jahrtausendwende die Aussicht auf einen grundsätzlich fortlaufenden Anstieg der Realeinkommen und damit auf eine Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten in vielen Ländern als zunehmend unrealistisch erwiesen. Die Wahrnehmung der Globalisierung hat sich verändert: Aus dem Motor der Wohlstandsmehrung und erhofften Demokratisierung ist für sehr viele eine Quelle der Bedrohung und Überforderung geworden.

„Aus dem Motor der Wohlstandsmehrung und erhofften Demokratisierung ist für sehr viele eine Quelle der Bedrohung und Überforderung geworden”

Selbst in Volkswirtschaften mit robuster Entwicklung und Beschäftigungsrekorden, wie in dem industriebasierten und exportorientierten Deutschland, formuliert eher die Mehrheit als die Minderheit Ängste bezüglich der künftigen Entwicklung, der eigenen Möglichkeiten und vor allem des persönlichen Status. Dahinter steht – entgegen der tatsächlichen ökonomischen Entwicklung – die verbreitete Wahrnehmung, dass die Globalisierung in Zeiten digitaler Transformation vor allem Anpassungslasten für die Beschäftigten begründe, entweder über höhere Produktivitätsanforderungen, über steigenden Lohndruck oder über höhere Arbeitsplatzrisiken.

Unabhängig von der konkreten Deutung der Globalisierung resultiert ihre ambivalente Wirkung – wirtschaftliche Dynamik und gesellschaftlicher Widerspruch – aus der sich intensivierenden transnationalen Arbeitsteilung sowie der davon nicht zu trennenden Ausweitung der Fernbeeinflussung. In diesem Spannungsfeld entwickeln die Megatrends – vor allem die digitale Transformation und der Klimawandel – ihre Potenziale und Herausforderungen für die Zukunft. Die hier zu entwickelnde These beruht auf der Einsicht, dass die Kraft dieser Treiber für die Weltwirtschaft ganz wesentlich davon abhängt, wie die Globalisierung gesellschaftlich nachhaltig akzeptabel – inklusiv – wird. Und das hängt ganz wesentlich an der Erkenntnis, dass die Globalisierung nur als explizit normatives Projekt eine Zukunft hat.

Globalisierung als normatives Projekt

Globalisierung vernetzt Volkswirtschaften durch freien Güterhandel und Dienstleistungsverkehr, Kapitalmobilität und Risikotausch, Wissensdiffusion und Wissensaustausch, Wanderung und Humankapitalmobilität. Ihr maßgebliches Kennzeichen ist also die Vernetzung, die zu einer Selbstverstärkung führt und letztlich die Entstehung globaler Akteure und Strukturen ermöglicht. Zugleich organisieren sich, ganz unabhängig von globalen Strukturen, Gesellschaften sowohl politisch als auch ökonomisch in Hierarchien.

Hierarchien definieren die Rangordnungen, sanktionieren Rechte, weisen Kompetenzen zu, bieten Konfliktlösungsmechanismen und sparen für die Gesellschaftsmitglieder vielfältige Transaktionskosten ein. Es werden starke und stabile Beziehungen definiert, um die Hierarchien nachhaltig und robust zu machen.

Die besondere Kraft von Netzwerken

Auch Unternehmen sind solche Hierarchien, die sich durch den Vorteil der Transaktionskostenersparnis begründen und absichern. Verändern sich die Kosten der Marktnutzung, dann kann dies weitreichende Folgen für bestehende Unternehmen haben. Sie werden disruptiv bedroht.

Netzwerke sind hingegen labil, leben von der spontanen, sich immer wieder neu bildenden Ordnung; sie beruhen auf der Stärke von schwachen, eher zufälligen Verbindungen, sogenannten strukturellen Löchern, die nicht redundante Informationen voneinander separieren. Die besondere Kraft von Netzwerken besteht darin, diese strukturellen Löcher zu überbrücken, zumal dann, wenn verschiedene Netze und Informationskreise zueinander in Beziehung gebracht werden können. Häufig gelingt dies aufgrund neuer Technologien für den Informationsaustausch und die Kommunikation, ebenso haben Kapitalströme und Finanzintermediation das Potenzial, Netze zu knüpfen.

Die Öffnung der wirtschaftlichen Möglichkeiten vor allem nach 1990 durch das Ende des politischen Systemkonflikts, die bereits seit 1980 laufende Liberalisierung der Kapitalmärkte sowie der technisch-instrumentelle Fortschritt bei starkem Bevölkerungswachstum bedeuteten nicht nur, der Freiheit global eine umfassendere Chance zu geben, sondern zugleich die Möglichkeiten der beliebigen, marktgetriebenen – also prinzipiell anarchischen – spontanen Vernetzung neu zu definieren. Die Globalisierung unserer Zeit hat die politischen und ökonomischen Hierarchien bislang wirksam unter einen fundamentalen Anpassungsdruck gesetzt. Hier wird der verdeckte normative Dissenz sichtbar: Welche Anpassung der nationalen Hierarchien infolge der globalen Netzwerke ertragen die Gesellschaften? Hier liegt der Keim des Protektionismus.

Das führt zu der ungleichen Alternative, entweder die Globalisierung mit überkommenen Mitteln – physischen Mauern, wie sie US-Präsident Donald Trump im Wahlkampf 2016 propagierte, oder Abschaltung und Zensur des Internets, wie es die chinesische Führung praktiziert – zurückzudrehen oder aber diese Anpassung durch institutionelle Reformen in den Staaten sowie die Entwicklung neuartiger transnationaler Institutionen anzunehmen. Die gegenwärtige Phase der Stockung kann man so deuten, dass der Konflikt zwischen Netzwerk und alter Hierarchie gerade ausgetragen wird, die neuen Hierarchien aber noch nicht akzeptiert, gesichert, geklärt oder gar sichtbar sind.

Sowohl der Westen als auch China sind diesem Konflikt ausgesetzt und reagieren darauf restriktiv, obgleich das jeweilige Verständnis von Globalisierung wertegebunden sehr unterschiedlich ist. Globalisierung steht als ein normatives Projekt im Konflikt zwischen dem transatlantischen Westen und China. Dabei ruht die Sichtweise des Westens – und damit, historisch begründet, insbesondere Deutschlands – auf den Grundprinzipien der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Das normative Gerüst stabilisierte über lange Zeit ganz selbstverständlich den Fortschritt der Globalisierung, ohne selbst seine historische Bedingtheit zu verlieren. Gerade der Blick zurück auf die Jahre seit dem Fall der Mauer und der Öffnung des Eisernen Vorhangs bietet aber einer Epoche, die wie keine zuvor die Ideen von 1776 und 1789 aufnimmt und mit den Ideen von 1989 erstmals die Hoffnung verbindet, das zivilisatorische Projekt des Westens könnte global ausreifen.

„Globalisierung steht als ein normatives Projekt im Konflikt zwischen dem transatlantischen Westen und China”

Doch wie weit konnte und kann eine Globalisierung tragen, die sich nicht auf den Austausch von Waren beschränkt, sondern durch Dienstleistungshandel, Direktinvestitionen und Wanderungsentscheidungen die Bedingungen des neuen Standorts ganzheitlich in Betracht nimmt, sodass sich die klassische ordnungspolitische Frage nach der Konsistenz der politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen, kulturellen und ökonomischen Ordnungen aufdrängt?

Die ökonomische Dynamik unserer Globalisierung hat viel mit der Integration der Schwellenländer zu tun, wovon Deutschland in besonderem Maße profitiert. Vor allem die Entwicklung in der Volksrepublik China trägt daran einen überragenden Anteil. Der marktwirtschaftlichen Öffnung sind allerdings bislang weder eine politische Demokratisierung noch eine gesellschaftliche Liberalisierung gefolgt. Der repressive Umgang mit zivilgesellschaftlichem Engagement – besonders starr im Fall des Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers (2010) Liu Xiaobo – macht dies überdeutlich. Die politische Führung Chinas propagiert konsequent den eigenen politischen Weg und markiert damit zugleich in besonderer Weise die Position, die ökonomische Globalisierung mit Blick auf Politik und Gesellschaft normativ zu neutralisieren, sie quasi auf ein technisches Verfahren zu reduzieren.

„Die ökonomische Dynamik unserer Globalisierung hat viel mit der Integration der Schwellenländer zu tun, wovon Deutschland in besonderem Maße profitiert”

Die Öffnung Chinas nach Maos Tod war nie als Demokratisierungsprojekt verstanden worden. Stattdessen bilden zwei Jahrhunderte chinesischen Rückschritts und Verfalls für die Führungselite des heutigen China einen Ansporn. Dieser – so gedeutete – Irrlauf der Geschichte soll korrigiert werden, und zwar in einem eigenständigen Modell: der Volksdiktatur. Es hat sich an der Bindung des Kapitalismus an die kommunistische Herrschaftsstruktur und den Zentralismus der Partei im Grundsatz bis heute nichts geändert. So gilt: Die normative Frage nach der passenden Wirtschaftsordnung ist zentral. Dies gilt erst recht in einer Zeit, in der viele das Ende aller Sicherheit verspüren. Es ist mit Blick auf die künftigen Treiber der Weltwirtschaft zu prüfen, inwieweit angesichts kultureller Differenzierungen und Pfadabhängigkeiten das Projekt der Globalisierung im Kampf von Netzwerken und Hierarchien zukunftsfähig normativ zu verankern ist.

Die Erschöpfung unserer Globalisierung

Die normative Spannung unserer Globalisierung hat ihrem Erfolg lange Zeit nichts anhaben können. Die Freisetzung der weltweit integrierenden ökonomischen Kräfte dominierte über Jahrzehnte alles. Die gewaltigen Entwicklungsunterschiede zwischen den etablierten Industrieländern des Westens sowie den Schwellen- und Entwicklungsländern ließen die ordnungspolitischen Unterschiede nachrangig erscheinen. Es ging (zunächst) darum, wirtschaftliche Aufholprozesse durch Nachholen in Gang zu setzen. Die folgenden Ausstattungsmerkmale prägen das Panorama unserer Globalität:

  • Institutionelle Innovationen wie die multilaterale Welthandelshandelsorganisation WTO ermöglichen allen Beteiligten ein gewisses Mitspracherecht auf globaler Bühne. Von den neuen Partizipationsmöglichkeiten machten auch kleinere Länder re-gen Gebrauch, wie dies in bilateralen Verhandlungen nicht möglich gewesen wäre. Mit der wirtschaftlichen Integration schafften es insbesondere einige asiatische Länder, die sich ihnen bietenden Chancen zu nutzen und lange Zeit für unvorstellbar gehaltenes Nachholwachstum zu realisieren.
  • Die Öffnung der Kapitalmärkte nach dem Ende des währungspolitischen Regimes von Bretton Woods hat entgegen den Erwartungen nicht dazu geführt, dass Schwellen- und Entwicklungsländer uneingeschränkten Zugang zum globalen Finanzmarkt erhielten und umfangreich sowie flächendeckend dort Investitionsprojekte realisiert werden. Investitionsströme haben vielmehr eine relativ homogene Ländergruppe noch enger miteinander verwoben.
  • Die globale digitale Vernetzung und Transportkostenersparnisse vereinfachen das Agieren internationaler Konzerne entlang global integrierter Wertschöpfungsketten. Wo physische Entfernungen zwischen Konsument und Produktionsstätte an Bedeutung verlieren, bieten sich globalen Entrepreneuren ganz neue Möglichkeiten der Arbeitsteilung. Während die Konzernsteuerung im Herkunftsland verblieb, verlagerten gerade Industrieunternehmen im Zuge der Realisierung von Arbeitskostenvorteilen Arbeitsstellen in der Produktion in Schwellen- und Entwicklungsländer. Das beschreibt Deutschlands Position in der Weltwirtschaft äußerst zutreffend.
  • Die Modernisierungshypothese, nach der Wirtschaftswachstum die Demokratisierung politischer Prozesse initiiert, stellt sich als leere Worthülse, jedenfalls als fragwürdig heraus. Eine wachstumsgetriebene Konvergenz hin zu einem vom Westen propagierten System der liberalen Demokratie ist bislang nicht zu beobachten. Unsere Globalisierung begünstigt den Frieden dort, wo sie Integrationsstrukturen schafft oder stabilisiert. Die Sicherung der politischen Freiheit hängt dagegen vor allem an den nationalen Bedingungen, die sich als resistenter gegenüber wirtschaftlicher Integration erweisen.
  • Die akuten Schwierigkeiten der Schwellenländer, nachhaltiges Wachstum zu erwirtschaften, das besonders auf humanitäre, ökologische, soziale oder demokratische Belange Rücksicht nimmt, machen deutlich, dass die Träume des institutionenfreien Wachstums letztlich platzen müssen. Die hieraus folgende Angst vor der middle-income trap macht das Spannungsfeld und die Unsicherheit deutlich, aus denen die Erschöpfung der Globalisierung folgt.

Die Steuerung in Echtzeit rund um den Globus beschert die fundamentale realwirtschaftliche Innovation: die Globalisierung der Wertschöpfungsketten. Das hat bedeutsame Voraussetzungen und ebenso beachtliche Wirkungen. Es bedarf verknüpfbarer Arbeitsorganisationen und Arbeitszeitregime, einzelbetriebliche Belange müssen in den globalen Zusammenhang integriert werden können, unterschiedliche Kulturen und Werthaltungen an den verschiedenen Standorten sind konstruktiv zu verbinden. Hieran wird deutlich, dass es sowohl um unternehmerische Voraussetzungen als auch um politisch-institutionelle Standards geht. Was einerseits als Bedingung notwendig ist, das entfaltet andererseits beachtliche Effekte an den verschiedenen Unternehmensstandorten und darüber für die weltweite Vernetzung.

Erlahmung der Impulse aus wachstumsstarken Ländern

Fast 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Beendigung des Ost-West-Konflikts sowie 40 Jahre nach der programmatischen Verankerung der kapitalistischen Wirtschaftsweise in der Volksrepublik China zeigt sich die Globalisierung erschöpft. Die Stagnation bei den Vorleistungsverflechtungen und damit bei der Intensivierung der weltweiten Arbeitsteilung steht dafür ebenso als wichtiger Indikator wie eine Welthandelselastizität von maximal 1 und eine Erlahmung der Impulse aus wachstumsstarken Ländern. Die Erschöpfung der Globalisierung spiegelt sich in einer institutionellen Ratlosigkeit auf hohem Niveau, die sich letztlich aus einem tiefer liegenden, verdrängten, jedenfalls nicht aktiv angenommenen normativen Disput erklärt.

  • Die Industrieländer erkennen zunehmend die Sicherheitsillusion, der sie infolge der Euphorie des Jahres 1989 erlagen. Die Kritik der Globalisierung im Westen bindet Kräfte, die der konstruktiven Weiterentwicklung fehlen und einer Überwindung des Stillstands (vor allem dem Widerstand aus dem Kreis der Schwellenländer und Entwicklungsländer) entgegenwirken könnten (Doha-Runde in der WTO, TTIP, CETA). Gerade in Deutschland war die Kritik laut vernehmbar.
  • Die Schwellenländer und Entwicklungsländer erleben immer stärker die Effizienzillusion, die sich angesichts stagnierender Einkommensentwicklung zeigt. Die regionale Entwicklungszusammenarbeit kann die Probleme nicht lösen, da die internationalen Kapitalmärkte nach anderem verlangen, nämlich einer institutionellen Qualität und Stabilität, wie sie im Westen Standard ist.
  • Das Aufkommen protektionistischer Tendenzen in den Industrieländern wird durch ein Freihandelsbekenntnis der chinesischen Führung reflektiert, ohne dass dies sub-stanziell die normative Kluft zwischen der westlichen und der chinesischen Idee der Globalisierung zu vermindern oder gar zu überbrücken vermag. Das chinesische Verständnis der Globalisierung hat sich im Grundsatz seit 1978 nicht verändert, das westliche Verständnis hat dagegen sein Selbstbewusstsein verloren.
  • Die Chancen, im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit neue Formate, Regeln und institutionelle Lösungen zu finden, sind derzeit außerordentlich gering. Selbst die globale Herausforderung des Klimawandels ist nicht mehr umfassend konsensfähig. Die Bedrohung dafür liegt sowohl im transatlantischen Westen – in den USA – als auch im chinesischen Modell.
  • Extreme Widersprüche kennzeichnen die Globalisierungskritik, die oft als fundamentale Ablehnung daherkommt. Die Fortschritte bei der Reduzierung der Armut und der Erhöhung der Lebenserwartung in Entwicklungsländern werden ignoriert, andere Lösungsmechanismen als die der Marktwirtschaft werden nicht angeboten. Der verdeckte kleinste gemeinsame Nenner der linken wie der rechten Ablehnung ist letztlich die Heimstatt des rückwärtsgewandten und exklusiven Nationalismus.

Klimawandel und Digitalisierung

Für die Frage, welche Trends aus der Erschöpfung in die Zukunft weisen, sind die zentralen Anpassungsfaktoren und Risiken des globalen Strukturwandels zu würdigen: die Digitalisierung und der Klimawandel. Beide sind globalisierungsbasierte und globalisierungsgetriebene Phänomene, beide haben das Ringen zwischen Hierarchien sowie Netzwerken gemeinsam, und bei beiden steht die Frage nach der zentralen Steuerungsinstanz im Mittelpunkt. Externe Effekte werfen immer die Frage nach der Legitimität und der Durchsetzbarkeit von Eigentumsrechten auf, will man nicht das Recht des Stärkeren zum Maß machen. Beiden Phänomenen kann sich kaum ein Land auch nur vorübergehend entziehen. Der Klimawandel ist nur mit einer zentralen (und dringend benötigten) Steuerungsinstanz einzuhegen. Die durch die Digitalisierung entstandenen Netzwerke haben sich zu internationalen Machtstrukturen entwickelt, die es heute mit Nationalstaaten aufnehmen können.

Ein globaler, umfassender und verpflichtender Handel mit Emissionszertifikaten

Klar sollte sein, dass der Globalisierung ein umweltpolitischer Rahmen gegeben werden muss, der wirksam und sanktionsfähig ist. Ein globaler, umfassender und verpflichtender Handel mit Emissionszertifikaten wäre dafür zentral. Die Klimaveränderungen haben bereits ein internationales Bewusstsein, eine Handlungsstrategie und einen vertraglichen Rahmen begründet. Die politischen Grenzen des Pariser Klimaabkommens sind dennoch erkennbar schmal. So oder so belasten die Klimaveränderungen, neben den irreversiblen Schäden an Mensch und Umwelt, auch die wirtschaftliche Dynamik – entweder direkt über Behinderungen der Arbeitsteilung infolge beschränkter Austauschbeziehungen oder über die Vermeidungskosten von Umweltschäden. Aus den ökologischen Innovationsanstrengungen können freilich, wenn sie aufgrund staatlicher Ordnungspolitik marktgetrieben sind, wiederum wirtschaftliche Handlungsspielräume erwachsen und neue Märkte entstehen.

Die umweltpolitischen Herausforderungen sind unabhängig von der normativen Verankerung der Wirtschaftsordnung und damit des jeweiligen Globalisierungsmodells anzunehmen. Zu welcher Einigung sich die Akteure auf internationaler Ebene politisch auch durchringen können, es gibt bei der technologischen Implementierung einen Druck auf die marktwirtschaftliche Umsetzung umweltpolitischer Ziele (Ordnungspolitik). Gehen die Delegationen bei Klimaverhandlungen an die Schmerzgrenze ihres Mandats, braucht es Lösungen, die so effizient wie möglich zur Zielerreichung beitragen – sonst läuft man Gefahr, an innenpolitischen Widerständen oder der Vergeudung von Ressourcen zu scheitern. Man könnte dies verhandlungstechnisch nutzen, indem man Kompensationszahlungen der reichen Industrieländer von einer solchen Umsetzungslogik in den Entwicklungsländern abhängig macht.

„Der Klimawandel ist nur mit einer zentralen (und dringend benötigten) Steuerungsinstanz einzuhegen”

Umweltprobleme sind Probleme der relativen Knappheit. Die Lösung solcher Probleme gelingt nun einmal in offenen Märkten und mit marktfähigen Instrumenten am effektivsten und am effizientesten. Das lässt sich bei dem Handlungsdruck nicht kulturell differenzieren. Es bedarf eines gemeinsamen Willens der politischen Hierarchien, um der Globalisierung und ihrer Netzwerkdynamik einen stabilen, gleichermaßen wirksamen und effizienten Rahmen der Umweltpolitik geben zu können.

Fragmentierung und Individualisierung der Kommunikation ernst nehmen

Durch die digitale Transformation verändern sich die kommunikativen Strukturen der Öffentlichkeit, hier hat sich der eigentlich bedenkenswerte Effekt ergeben und weniger bei wettbewerbspolitischen oder produktionstechnischen Ableitungen. Es geht deshalb darum, ob und wie die Fragmentierung und Individualisierung der Kommunikation den öffentlichen Raum der Gesellschaft in Echokammern kleinerer Vorurteilsgemeinschaften zerlegt.

Die konstruktive Entwicklung und Ausfüllung des öffentlichen Raums durch Austausch der Interessen, die Hinnahme der Interessenkonkurrenz, die Gleichberechtigung der Interessen, bei Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz markiert den Kern moderner, deliberativer Demokratien und bedingt das Prinzip des allgemeinen und gleichen Zugangs. Die Wirkung der digitalen Transformation auf den öffentlichen Raum ist ambivalent: Einerseits befördert sie die Individualisierung sowie die Fragmentierung der Kommunikation, reduziert die Akzeptabilität gesamtgesellschaftlicher Werte und erschwert die Durchsetzung der Qualitätsstandards demokratischer Medien, andererseits entstehen eigene Formen der Vertrauensbildung, erhöht sich die Transparenz politischer Strukturen, Verfahren, Entscheidungen, und es werden soziale Innovationen durch Netzwerkbildung beschleunigt umsetzbar. Die Geltung der demokratisch begründeten Normen und Standards droht in der Faktizität sozialer Prozesse zu erodieren.

„Die Geltung der demokratisch begründeten Normen und Standards droht in der Faktizität sozialer Prozesse zu erodieren”

Dazu kommt die Bedrohung unserer Öffentlichkeit durch den Verlust an innerer Souveränität infolge medial, informationell und kulturell ungebremster Fremdbeeinflussung mit fragwürdiger Legitimation. Der Zerfall der Öffentlichkeit erfährt, unabhängig von den Inhalten über Fragmentierung und Individualisierung der Kommunikation, einen Schub, wenn es nicht gelingt, die alternativen sozialen Medien an die für die etablierten Formate gültigen Standards heranzuführen und ein neues gemeinsames level playing field zu etablieren. Das freilich wird kaum gelingen, wenn es darüber kein internationales Verständnis gibt. Und das wiederum dürfte angesichts der unterschiedlichen politischen Verfasstheit der beteiligten Staaten eher unwahrscheinlich sein.

Hierarchien treten hier an, Netzwerke für bindende Standards und Verhaltensmaßstäbe zu gewinnen, um die potenziell dysfunktionale Wirkung auf die Öffentlichkeit einzuhegen. Schaffen die Netzwerke ihre eigenen Hierarchien (als Institution der Selbstkontrolle), dann dürfte daraus im normativen Konflikt unserer Globalisierung eine starke Kraft werden. Die theoretische Einsicht, dass das marktwirtschaftliche System als Voraussetzung der Demokratie und die deliberative Demokratie als Voraussetzung der Marktwirtschaft normativ verbunden sind, erhält dann eine neue praktische Valenz.

Ausbruch aus der Erschöpfung: Multilateralismus, Kapitalbildung und Zivilgesellschaft

Es geht darum, der Globalisierung als Fortsetzung der Freiheitsgeschichte eine weiterhin tragfähige Perspektive dadurch zu verschaffen, dass eine neue Verantwortungsperspektive hinzugefügt wird. Die Erschöpfung der Globalisierung spiegelt sich in einer institutionellen Ratlosigkeit auf hohem Niveau, die sich letztlich aus einem tiefer liegenden, verdrängten, jedenfalls nicht aktiv angenommenen normativen Disput erklärt. Während private Akteure unvermeidbar in der Marktgesellschaft Vertrauen ausbilden müssen, um deren Effizienz zu heben, müssen Gesellschaften und Staaten mit dem Ziel, wirtschaftliche Aktivität zu stimulieren, um damit Wohlstand und soziale Absicherung zu erreichen, das Vertrauen gezielt durch kluge Institutionen schaffen. Daran knüpfen die globalisierungspolitischen Überlegungen an. Sie reflektieren auch die Normativität der Globalisierung, die nur durch multilaterale Verhandlungen und Strukturen sowie transnationale Institutionen angemessen im 21. Jahrhundert reflektiert werden kann. Das ist kein Ende des transatlantisch geprägten Traums, aber seine zeitgemäße Einordnung als europäische und deutsche Verantwortung.

Um der schwindenden Kohäsion der Staaten entgegenzuwirken, ist es entscheidend, dass für die Entwicklungsländer eine Lösung für ihr persistentes Vertrauensproblem gefunden wird. Alle Versuche, durch Kreditgarantien, Entwicklungshilfe und spezielle Programme der Institutionenentwicklung den Ländern der sogenannten Dritten Welt eine anschlussfähige Position für die wirtschaftliche Integration zu ermöglichen, haben nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Das Vertrauensproblem muss in den sich entwickelnden Ländern selbst bewältigt werden.

Im Mittelpunkt des Konzepts steht die Frage, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um private Investitionen aus dem Ausland in afrikanische Länder zu lenken, wobei ein besonderer Fokus auf langfristigen und kapitalintensiven Infrastrukturprojekten liegt, bei denen inländische Mittel nicht ausreichen. Eine kapitalgedeckte Altersvorsorge hat das Potenzial, in einem ersten Schritt nationales Kapital zu aktivieren und wirtschaftliche wie politische Institutionen graduell zu stabilisieren. Sobald sich diese Effekte verfestigen, dürften internationale Geldgeber ihre Mittel in die entsprechenden Regionen lenken. Auch wenn sie nicht der Maßgabe westlicher liberaler Demokratien entsprechen, können Länder so schrittweise an den Erfolgen der Globalisierung beteiligt werden, und zwar über strategische Investitionen in Infrastruktur und Innovationsstandorte.

„Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um private Investitionen aus dem Ausland in afrikanische Länder zu lenken”

Werden die Standortvoraussetzungen so hergestellt, dann sind die Volkswirtschaften zunehmend für internationale Wertschöpfungsketten anschlussfähig und können es schaffen, fähige Arbeitskräfte für ihre Spezialisierungsmuster anzuziehen. Eine nachhaltige Alterssicherung kann über langfristige Investitionen und Formalisierung der Erwerbsarbeit einen Beitrag zur Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Institutionen liefern. Kapitalbildung als entwicklungspolitische Eigenleistung der Länder Subsahara-Afrikas legt so den Grundstein für eine eigenständige Perspektive, unterstützt durch die internationalen Kapitalmärkte und nicht mehr durch die Entwicklungshilfe des Westens und Chinas.

Den entwickelten Volkswirtschaften kommt als Globalisierungsvorläufern und tief integrierten Ökonomien, eingebettet in konsolidierter Staatlichkeit, eine besondere Verantwortung zu, und zwar sowohl für die Rückbildung gesellschaftlicher Kohäsion wie auch für die Entwicklung einer globalen Perspektive. Deutschland muss hierbei an vorderster Front Verantwortung übernehmen. Wir erfüllen die Vorbildbedingungen als in westlich-transatlantischer Tradition etablierte Demokratie mit einer entwickelten Zivilgesellschaft; diese steht für die Qualität der demokratischen Kultur, eröffnet Perspektiven der Einbindung unterschiedlichster Lebenssituationen sowie Lebensentwürfe und ist für die Bewältigung verteilungspolitischer Herausforderungen wichtig.

Systematische Einbindung der Zivilgesellschaft

Um den Erschöpfungszustand der Globalisierung zu beenden, verlangt es, die Zivilgesellschaft wegen ihrer identitätsstiftenden Kraft und ihrer Fähigkeit zur praktischen Würdigung individueller Lebenslagen systematisch einzubinden. Denn sosehr die nationalen Verteilungskonflikte infolge der Globalisierung überzeugende Antworten für die Beschäftigungsintegration durch die Bildungspolitik, die Wettbewerbspolitik und die Sozialpolitik benötigen, sie benötigen auch Antworten auf die zunehmende Heterogenität der Lebenssituationen durch bürgerschaftliches Engagement. Es geht um Identität und Sicherheit im lebenspraktischen Sinne. Die differenzierende Kraft der Zivilgesellschaft erweist sich aus einem anderen Grund als bedeutsam: Der Schwund gesellschaftlichen Zusammenhalts in Verbindung mit einer globalisierungsbedingten Verunsicherung ist in unterschiedlichsten Gesellschaften mit gänzlich verschiedenen wirtschaftlichen Entwicklungen zu beobachten.

„Der Schwund gesellschaftlichen Zusammenhalts in Verbindung mit einer globalisierungsbedingten Verunsicherung ist in unterschiedlichsten Gesellschaften mit verschiedenen wirtschaftlichen Entwicklungen zu beobachten”

Unternehmen als die zentralen Akteure unserer Globalisierung, die nicht nur ihre Wertschöpfung global aufstellen, sondern damit sich selbst ebenso wie die sie umgebenden Staaten unter einen erheblichen wettbewerblichen Anpassungsdruck setzen, stehen gerade auch mit Blick auf die Ergebnisverantwortung vor der Herausforderung, dafür die relevanten gesellschaftlichen Gruppen einzubeziehen. Die systematische Einbindung der Zivilgesellschaft eröffnet neue transnationale Diskursräume und bietet die Chance, sowohl für eine nachhaltige betriebswirtschaftliche Strategie als auch die erschöpfte Globalisierung zu ertüchtigen. Unternehmen müssen für die wirklich inklusive Globalisierung diese gesellschaftliche und politische Sichtweise systematisch mit ihrem ökonomischen Handeln verbinden; deutsche Unternehmen müssen dabei ihren etablierten Vorsprung sichern und ausbauen. Nur so entkommen sie dem Legitimitätsdilemma, das sich bei zufälligen und nicht lokal verbundenen Aktionen sowie der Verursachung von institutionellem Anpassungsdruck ergibt.

Deutschlands Verantwortung

Die Chance des transatlantischen Westens – damit für Deutschland – liegt nun darin, dass die hier selbstverständliche Zivilgesellschaft den entscheidenden Hebel für das Verständnis und die Anschlussfähigkeit in den neuen Zielregionen der Globalisierung begründet – nicht nur als Assoziationswesen für problemlösende Diskurse, sondern auch als transformativer Treiber für deliberative Politik. Beides trägt der normativen Verwandtschaft von Marktwirtschaft und Demokratie Rechnung.

Insofern stellt sich die Frage nach den Treibern der Weltwirtschaft 2030 vor allem globalisierungspolitisch. Wenn der normative Konflikt nicht zumindest entspannt wird, werden Fragen nach Branchen und Märkten der Zukunft mehr oder wenig zweitrangig sein. Deutschlands Verantwortung ergibt sich auch daraus, dass das Denken in Ordnungen und konsistenten Regelwerken hierzulande quasi zu Hause ist. Das verlangt Konfliktbereitschaft in der Sache, und zwar gegenüber alten Freunden – wie den USA – und gegenüber kritischen Partnern – wie China.

Zum Beitrag auf deutschland-und-die-welt-2030.de

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