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(© Foto: Getty Images)
Knut Bergmann und Michael Hüther in der Frankfurter Allgemeinen Gastbeitrag 16. August 2018

Linke Regression

Enttäuschte Vordenker der Linken wollen sozialstaatlich zurück in die Vergangenheit. Warum nur? Die oft beschworene Prekarisierung hält empirischer Betrachtung nicht stand. Eine Antwort auf den Soziologen Wolfgang Streeck von IW-Direktor Michael Hüther und IW-Hauptstadtbüroleiter Knut Bergmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Folgt man der Argumentation des linken politischen Spektrums, dann ist jede im Zeit- wie im Ländervergleich positive Bewertung der gesamtwirtschaftlichen Lage in Deutschland ein überheblicher, realitätsferner Akt, der die Armen und Gebeutelten in diesem Land, ersatzweise weltweit, vergisst. Der Ökonom bleibt da etwas staunend zurück. Denn mit dieser fundamentalen Negierung der Fortschritte verbindet sich die offensichtlich kaum zu stillende Sehnsucht nach einer Rückkehr zu alten wohlfahrtsstaatlichen Konzepten.

Die Debattenlage ist heute eine grundsätzlich andere als in der Endzeit der Kanzlerschaft von Helmut Kohl, den Jahren bis zur „Agenda 2010“ und denen unmittelbar danach. Damals ging es um vorrangig nationale wirtschaftliche Sorgen, das schwache, anämische Wachstum und die hohe, verfestigte Arbeitslosigkeit. So erkennbar wie wenig bestritten wurde, dass die zuvor verfolgten wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Instrumente nicht nur wirkungslos waren, sondern den Staat in seiner Handlungsfähigkeit konzeptionell und finanziell überfordert hatten.

Unstrittig sollte sein, dass sich seitdem die ökonomische Lage Arbeitslosenquote, Erwerbsbeteiligung, Staatsfinanzen auf nicht für möglich gehaltene Weise verbessert hat. Anders als oft und gern behauptet, wurde dies nicht durch Lohndumping erkauft was nicht zuletzt deutlich wird, wenn man bedenkt, dass ohne gute Lohnentwicklung wohl kaum die stetig stark sprudelnden Steuern und Abgaben zu erklären wären. Genauso wenig hält die vielbeschworene Prekarisierung empirischer Betrachtung stand, eher das Gegenteil ist der Fall: Die Anzahl der Normalarbeitsverhältnisse unbefristet, in Vollzeit, sozialversicherungspflichtig ist stabil, der Anteil des Niedriglohnsektors verringert sich, die Verteilungsindikatoren sind seit über einer Dekade robust. Natürlich sind wir damit nicht im ökonomischen Himmel angelangt, aber wir sind jedenfalls weiter gekommen, als es vor anderthalb Jahrzehnten selbst Optimisten für möglich gehalten haben.

Statt nun bei der Frage, was weiterhin hilft, um die nicht zu bestreitenden noch bestehenden Probleme zu lösen Langzeitarbeitslosigkeit, regionale Ungleichgewichte, mangelnde Chancen alleinerziehender Mütter am Arbeitsmarkt, die schlechten Startbedingungen für Kinder aus bildungsfernen Haushalten, die Wohnraumversorgung in Städten und aus den Erfolgen zu lernen, suggeriert die sammlungstechnisch sich neu formierende Linke, es müsste der Sozialstaat trotz robuster Sozialleistungsquote von dreißig Prozent zurückerobert werden. Angestrebt wird die Rückabwicklung aller Arbeitsmarkt- und Sozialreformen und natürlich der gesamten Deregulierungen sowie Privatisierungen seit 1990. Das verheißt im linken Spektrum Inspiration. Enttäuschte Vordenker der sozialdemokratischen linken Mitte von ehedem, wie Wolfgang Streeck (FAZ vom 4. August), finden darin den Ausweg aus der linken Schwäche.

Zurück in die Vergangenheit als Weg in die Zukunft erstaunlich. Was ist nur passiert, dass es in der Sozialdemokratie keinen Stolz mehr auf das Erreichte gibt, man sich dessen nachgerade zu schämen scheint? Die SPD leidet unter nie aufgearbeiteten ideologischen Verletzungen, die ihr zuerst durch Helmut Schmidt mit seiner „Operation '82“ und dann durch Gerhard Schröder mit der „Agenda 2010“ zugefügt wurden. Während das wirtschaftspolitische Erbe von Schmidt im Regierungshandeln seines Nachfolgers prosperierte und damit konservativ naturalisiert wurde, hat sich die SPD die negativen Seiten der Agenda-Politik selbst angeklebt. Das positive Erbe der Kanzlerschaft Schröder hat sie jedoch an dessen Nachfolgerin verschenkt, die es dankbar annahm. Die parteipolitische Reaktion schmerzt mehr als das Aufkommen der Grünen. Die waren zwar auch „Fleisch aus dem Fleische“, aber Ende der Siebziger war wahlstimmentechnisch noch mehr zu verteilen als bei der von Schwindsucht befallenen Sozialdemokratie nach 2005. Zudem ist die Partei Opfer des eigenen Erfolgs geworden, ihre historische Mission ist weithin erfüllt; viele ihrer basisenthobenen Funktionäre haben sich eingeigelt im Moralismus, die Partei wurde zur Geisel ihrer Klientelpolitik.

Die SPD verspricht die bessere Welt und liefert den Mindestlohn

Generell haben linke Parteien Schwierigkeiten mit politischem Pragmatismus. Doch der Regierungsalltag lässt in der Regel anderes kaum zu. Da stößt jede Ideologie schnell an ihre Umsetzungsgrenzen, der theoretische Appeal versinkt schließlich im Morast der unvermeidbar kleinteiligen Verwaltungswelt. Umso mehr sind linke politische Akteure geneigt, die Unmöglichkeit der reinen Lehre durch andere, dunkle Kräfte verursacht zu sehen. Der „Neoliberalismus“ ist die Kraft, die stets das Böse will und erreicht. Die Selbstzuschreibung „Pragmatismus“ verschleiere dies nur. So bedeutet die „Agenda 2010“ doppelten Schmerz: als effektive Einschränkung linker wohlfahrtsstaatlicher Leistungsversprechen und als strategischer Erfolg des anderen politischen Lagers.

Die politische Linke ist trotz aller marxistischen Wendung ideengeschichtlich dem deutschen Idealismus verpflichtet. Die Marxsche Vision bietet im Kern eine säkularisierte Heilsgeschichte. Linke Politik zielt deshalb letztlich nicht darauf, Strukturen zu verändern, sondern darauf, den Menschen zu bessern. Durch wirtschaftspolitische Intervention und sozialpolitische Umsorgung soll es gelingen, den Einzelnen zu vervollkommnen und in den Stand zu versetzen, sich den höheren Werten einer transzendentalen Welt zu öffnen. Doch die Enttäuschung ist groß, denn solcherlei Wohlfahrt führt zur Vollendung der Menschwerdung nicht einmal im Paradies. Praktisch gewendet: Die SPD verspricht die bessere Welt und liefert den Mindestlohn.

Die Neuformierung einer politischen Linken sucht wie erwähnt ihren Wesenskern dennoch traditionell im Bereich der Sozialpolitik, die ihr notleidend geworden erscheint. Die Hinweise auf beständig hohe Leistungen werden nicht akzeptiert, weil als Orientierungspunkt das Jahr 1975 gilt. Die Traditionserzählung beschreibt dies als Höhepunkt und Schlusspunkt gleichermaßen wohlfahrtsstaatlicher Gestaltung und Prägung. Es folgten die behäbigen Jahre der Kohlschen Kanzlerschaft, dann die „neoliberale Konterrevolution“ und der „globale Austeritätsdruck“, die Deutschland seitdem den Stempel aufdrückten – und Deutschland in diesem Sinne wiederum dem Euroraum.

Die Klagen über den Verlust der guten alten Zeit und über den sozialpolitischen Verfall haben bei den Linken zu einer gleichermaßen restriktiven wie regressiven Haltung gegenüber den drei Megatrends unserer Zeit geführt: Globalisierung, Digitalisierung, Migration. Diesen Trends habe die Politik sich nicht entgegengestellt, sondern sich nur angepasst. Wer anderes wolle, dürfe nicht der „Scheinmoral der Kapitalisten“ folgen, sondern müsse mit Abschottung reagieren. Anstatt Gestaltungsoptionen zu entwickeln, werden Angsträume bespielt. Der dominant rückwärtsgewandte Blick auf den Wohlfahrtsstaat bleibt prägend.

Die derzeit vielfach zu vernehmende Argumentation für eine linke Sammlungsbewegung verwundert. Denn deren Muster verbindet Verfallstestate für die alte Ordnung (beispielsweise im transatlantischen Kontext oder in Europa, aber auch für die deutsche Parteienlandschaft) mit sozialpolitischen Befunden, deren Gehalt sich aus anekdotischer Evidenz und blinder Wiederholung, jedenfalls keiner differenzierten Würdigung der Tatsachen speist. Gerhard Schröder und Angela Merkel stehen dabei gleichermaßen für ein politisches Versagen im Dienste des neoliberalen Kapitalismus. Während Schröder den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat mit Hartz IV unterminierte, öffnete Merkel die Grenzen für jeden, um das Lohndumping nachhaltig zu machen. Vorab hatte sie schon Wolfgang Streeck zufolge den Krisenstaaten in der Eurozone ein „financial waterboarding“ verordnet. Verbunden seien beide Handlungsstränge durch die „schwarze Null“ einer „politisch-ökonomischen Austeritätskoalition“.

Links der Mitte fehlt es oft an Realismus

Selbst wenn man im Gedankenexperiment dies einmal so annimmt, folgt doch die Enttäuschung über die eher dürftigen und altbackenen Politikantworten auf dem Fuße. Vorgeschlagen wird (wir orientieren uns mangels tiefergehender Bekenntnisse an Streeck): 1) grundlegender Umbau des Euros (zu deuten als: Schuldenvergemeinschaftung?), 2) höhere Mindestlöhne, 3) allgemeinverbindliche Tarifverträge, 4) Bildungsexpansion, 5) Senkung der Sozialbeiträge bei unteren Einkommen, 6) kreditfinanzierter Infrastrukturplan neue Länder, 7) Soli in höheren Spitzensteuersatz überführen, 8) Förderung eines modernen Genossenschaftswesens, 9) faires Einwanderungsgesetz, 10) Abkehr von der „migrationspolitischen Absicherung des Hinausziehens des Krieges“ (zu deuten als: Null-Schutzquote für Syrer?), 11) keine Erhöhung der Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 12) Kooperation mit Russland, 13) Ablehnung von Macrons gemeinsamen Militäreinheiten.

Enttäuschung drängt sich auf, weil man sich doch fragen muss, wie diese Melange aus altbekannter linker Sozialpolitik, schon Bewährtem, durchaus interessanten gesellschaftspolitischen Einzelideen und fragwürdigen Vorschlägen ein Programm ergeben soll, das ein „Aufstehen“ lohnt. Wo ist da der große Entwurf? Wo ist der gemeinsame Nenner? Wenn man genauer hinschaut, kann man erkennen: Es ist das Versagen der Linken, in unseren Zeiten konstruktive Antworten auf die drei Megatrends zu finden. Zur Migration: außer Abschottung wenig, es werden primär die Narrative europäischer kolonialistischer Ausbeutung in Afrika bemüht. Zur Globalisierung: Rückkehr zum Nationalstaat. Zur Digitalisierung: Fehlanzeige. Kann ein Programm der linken Regression heute helfen? Kaum.

Dabei ist es ja durchaus so, dass manches neu zu justieren ist, dass überkommene Stereotype überprüft gehören, dass bisherige Konzepte zu hinterfragen sind. Die reine Dualität von Staat und Markt reicht schon lange nicht mehr aus zur Gestaltung einer guten Zukunft. Um die Potentiale der sonst oft nur in Sonntagsreden beschworenen Zivilgesellschaft zu bebildern, reicht ein Blick auf die vielfältigen privaten Initiativen zur Integration von Flüchtlingen. Von der Zivilgesellschaft ist der gedankliche Weg nicht weit zum öffentlichen Raum, dessen Funktionsfähigkeit auch unter den kommunikativen Bedingungen digitaler Echokammern erhalten werden muss. Die Gretchenfrage dahinter lautet, ob es dabei bleibt, dass die Bürger freiheitsberechtigt sind und der Staat freiheitsverpflichtet ist? Dazu bedarf es wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Klarheit. Deutschland muss seine Interessen definieren, darüber debattieren und sie durchsetzen im Inneren wie gemeinsam in Europa. In der erschöpften Globalisierung braucht es trotz widriger Bedingungen das klare Bekenntnis zu den internationalen Partnerschaften und ihrer transatlantischen Wertebasis, die seit 1945 für Freiheit, Stabilität und Wohlstand gesorgt haben. Im Umkehrschluss bedeutet dies, internationale Verantwortung mindestens im selben Maße wie bisher wahrzunehmen.

Was kann man da den Parteien links der Mitte eigentlich noch wünschen? Dreierlei: Der SPD passend eine Utopie, nämlich, dass sie sich noch rückwirkend mit ihren eigenen Erfolgen der Schröder-Zeit aussöhnen könnte. Der Linkspartei besser nichts außer mehr Ramelows und Bartschs. Und den Grünen, dass sie im Bund über Jamaika hätten regieren können. Doch diese drei Wünsche sind gleich denen bei der Fee märchenhaft.

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