Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Bürgerdialoge ein partizipatives Placebo sind, schreibt der Leiter des IW-Hauptstadtbüros, Knut Bergmann, in der Welt. Daran krankten schon frühere Versuche.
Für Glück ist Politik nicht zuständig
Die 99. Veranstaltung von "Gut leben in Deutschland" wurde zum Medienereignis. Beim Bürgerdialog in Rostock gab die 14-jährige Reem aus Palästina mit ihren Tränen den Flüchtlingen ein Gesicht. Und die Bundeskanzlerin sah sich "konfrontiert mit dem Leben", wie eine Zeitung titelte. Genau das ist der Sinn der Bürgerdialoge. Wie Merkel freiherzig bekannte, sei man sich in der Bundesregierung nicht ganz sicher, was die Bürger wirklich für wichtig hielten. Damit konstatierte die Regierungschefin, was oft kritisiert wird: die Politik als abgehobene Klasse.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass solche Bürgerdialoge ein partizipatives Placebo sind. Daran krankten schon frühere Versuche: Der Bundespräsident initiierte das folgenlose Bürgerforum 2011, die Kanzlerin vor drei Jahren einen Zukunftsdialog, aus dem insbesondere die Forderung, Cannabis zu legalisieren, in Erinnerung geblieben ist. Dieser Vorschlag taugt als Beleg, dass in solchen Verfahren vor allem Mobilisierungsfähigkeit belohnt wird. Dabei weist jedes Engagement, auch das in Bürgerdialogen, eine soziale Schieflage auf, denn es engagieren sich vor allem Menschen mit höherer Bildung und höherem Einkommen.
Offenbar traut die Regierung den Abgeordneten nicht zu, Volkes Stimme nach Berlin zu transportieren. Spöttisch ließe sich anmerken, dass es wirklich nötig sein könnte, die Wutbürger der Abgeordnetensprechstunde im Wahlkreis zu überlassen, damit die Dialoge weiterhin gesittet ablaufen. Sie bewegen sich argumentativ eher an der Oberfläche, wohingegen Politik der mühsame Streit über konkrete Sachfragen ist. Erschöpfend Auskunft gibt darüber anhand des Themas Lebensqualität der 844 Seiten zählende Schlussbericht der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität". Braucht es da wirklich noch einen weiteren Bericht – und zudem ein Indikatorensystem und einen Aktionsplan für mehr Lebensqualität in Deutschland, die es jetzt als Ergebnis geben soll?
Aber da die Enquete-Kommission weitgehend wirkungslos geblieben ist, braucht es offenbar einen neuen Anlauf und zusätzliche Legitimation. Für die Umsetzung des jetzigen Vorhabens stehen wie immer drei Möglichkeiten zur Verfügung: Die symbolpolitische Ebene wurde mit dem Dialog selbst schon bedient. Der zweite Handlungsmechanismus, Geld in die Hand zu nehmen, wird wegen der "schwarzen Null" weitgehend ausfallen müssen. Bleibt als drittes Mittel gesetzgeberische Tätigkeit, denn die kostet zumindest die Staatskasse meist wenig. Problematisch für unsere freiheitliche Gesellschaft ist dabei, dass die Verrechtlichung unseres Gemeinwesens ständig voranschreitet.
Dieser Weg wäre auch ohne die Veranstaltungen gebahnt, das "Gut" zeigt die Richtung an. Mag das gute Leben noch abstrakt daherkommen, ist die Vorstellung von "guter Arbeit", wie sie nicht allein von Gewerkschaften propagiert wird, schon viel konkreter. Ob sie dazu beiträgt, Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern – mithin eine der wichtigen Quellen eines glücklichen Lebens –, bleibt dahingestellt. Besser wäre es, wenn die Verantwortlichen in unserem Land den Sorgen und Nöten der Bürger stets so emphatisch begegneten wie die Bundeskanzlerin dem Flüchtlingsmädchen Reem. Und so klar in der Sache, was die Grenzen des Möglichen angeht. Dann gäbe es nämlich weniger falsche Erwartungen daran, was der Staat regeln kann. Das gute Leben gehört jedenfalls nicht dazu.
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