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Jürgen Matthes auf Makronom Gastbeitrag 24. September 2021

Globalisierung in Gefahr: Was sollte die EU tun – und was nicht?

Die EU steht vor der Herausforderung, offene Märkte so weit wie möglich zu bewahren und ihre Handelspolitik im eigenen Interesse zukunftsorientiert fort zu entwickeln. Dabei muss sie sich über bestimmte Zielkonflikte bewusst werden und strategische Prioritäten setzen, schreibt IW-Ökonom Jürgen Matthes in einem Gastbeitrag für Makronom.

Die Globalisierung ist von verschiedenen Seiten unter Druck, nicht erst seit der Corona-Krise. Zugleich stehen der Europäischen Union tiefgreifende ökonomische Transformationen bevor, die neuerliche Gefahren für die Globalisierung mit sich bringen. Daher ist die EU mit der Herausforderung konfrontiert, in dieser komplexeren Welt offene Märkte soweit wie möglich zu bewahren und ihre Handelspolitik im eigenen Interesse zukunftsorientiert fortzuentwickeln.

Schon vor der Corona-Krise haben nationale Egoismen ebenso zugenommen wie geoökonomische Konflikte. Verschiedene Arten von Verlustängsten führten zu Bestrebungen nach Schutz (Protektionismus) und nationaler Souveränität, wie in den USA und im Vereinigten Königreich deutlich wurde, aber auch in den (vor allem östlichen) Teilen des europäischen Kontinents. Das Aufstreben Chinas führt nicht nur zu geopolitischen Rivalitäten um die Vorherrschaft im 21. Jahrhundert, sondern bringt aufgrund vielfältiger Wettbewerbsverzerrungen auch ökonomische Probleme mit sich und gefährdet damit letztlich Globalisierung und Multilateralismus.

In diesem Umfeld musste die EU nicht nur (wie die anderen Industrieländer) die säkularen Wirtschaftseinbrüche durch die globale Finanzmarktkrise und die Corona-Krise meistern, sondern darüber hinaus noch die Euro-Schuldenkrise. Das hat die Wachstumsdynamik schon im vergangenen Jahrzehnt gedämpft. Europa kommt zudem langsamer aus der Corona-Krise als die USA und China, trägt in Teilen zu hohe Schuldenlasten und wird in den nächsten zwei Dekaden stärker unter der demografischen Entwicklung leiden als die USA. Das vermindert das relative Gewicht der EU an der Weltbevölkerung und an der Wirtschaftsleistung in Zukunft noch weiter. Gleichwohl stellt sich die EU als Vorreiter bei Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Werte-Orientierung immer ambitioniertere Ziele. Auch weil Europa an Strahlkraft verloren hat, entstehen damit neue Sollbruchstellen für die Globalisierung.

Diese Gemengelage lässt sich in eine Metapher fassen: Als Europäer segeln wir auf einem zunehmend rauen Meer, unser Schiff glänzt nicht nur weniger, sondern es wird auch langsamer, andere holen auf. Doch gleichzeitig nehmen wir uns nach einer Seuche an Bord vor, auf hoher See und bei starken Böen unser Schiff kräftig umzubauen. Damit das Schiff dabei nicht in Schieflage gerät, sind ein durchdachter Bauplan und ein klarer Kompass nötig.

Die Kompassnadel sollte sich dabei nach der Corona-Pandemie angesichts der Wohlstandsbedrohungen klar an den ökonomischen Interessen des Standortes Europa und dem Wohl der Menschen hierzulande ausrichten. Dazu gilt es auch Zielkonflikte zu identifizieren und offen zu benennen. Daran mangelt es bislang, was eine aufgeklärte interessengeleitete strategische Debatte erschwert.

Offene Märkte als Wohlstandsquelle

Offene Märkte sind grundsätzlich eine wichtige Wohlstandsquelle. Doch die Tendenz geht statt zu mehr Öffnungen eher hin zu mehr Protektionismus. Im Zuge der Corona-Krise sind zudem Forderungen nach Reshoring und einer (überzogenen) staatlichen Industriepolitik aufgekommen. In diesem Umfeld lassen sich auf globaler und multilateraler Ebene im Rahmen der WTO kaum noch größere Liberalisierungsschritte erzielen.

Ähnlich sieht die Sicht der EU aus mit Blick auf ihre Ausweichstrategie der bilateralen Freihandelsabkommen (FHA). Hier sind die Liberalisierungshemmnisse teils hausgemacht. So gibt es innerhalb der EU Widerstand gegen wichtige neue FHA, wie das schon vorläufig in Kraft gesetzte Abkommen mit Kanada (CETA), das aber selbst vom Deutschen Bundestag noch nicht ratifiziert ist.

Wenn die EU eine größere wirtschaftliche und politische Rolle in Asien spielen will, sollte sie sich bei den ASEAN-Staaten etwas mehr Flexibilität zubilligen

Wichtiger noch sind Probleme bei möglichen FHA in Südostasien. Denn Asien ist das aktuelle und künftige Wachstumszentrum des Globus, daher liegen hier große Potenziale für die EU. Vor allem mit großen und dynamisch wachsenden Schwellenländern wie Indonesien, Malaysia und Thailand stocken jedoch die Verhandlungen oder sind auf Eis gelegt. Das liegt insbesondere auch daran, dass die EU in den FHA ihre Werte bei Nachhaltigkeitsstandards und Menschenrechten durchsetzen will, aber auf starken Widerstand der potenziellen FHA-Partner stößt. Die Soft Power und die Marktmacht der EU reichen offenbar nicht mehr aus, diese Blockaden zu überwinden.

Wenn die EU eine größere wirtschaftliche und politische Rolle in Asien spielen will – dies ist explizites Ziel ihrer Indo-Pazifik-Strategie –, sollte sie sich bei den ASEAN-Staaten etwas mehr Flexibilität zubilligen. Sie sollte ihren normalen Standardansatz für FHA modularer gestalten, um möglichst viele ihrer Werte durchzubringen, jedoch auch anerkennen, wenn hier unüberwindbare Grenzen erreicht sind. Beim ausverhandelten bilateralen Investitionsabkommen mit China hat die EU genau das getan, indem sie gerade bei Menschenrechten und Arbeitsschutzstandards weniger hohe Standards angesetzt hat.

Ohne eine pragmatischere FHA-Politik kann die EU ihre wichtigen Wohlstands- und geopolitischen Ziele in der Region nicht ausreichend erreichen. Das asiatische Abkommen RCEP war ein klarer Weckruf, dass in Asien niemand auf die EU wartet. Das muss auch und gerade im Europäischen Parlament anerkannt werden. Wer die verbleibende Soft Power Europas überschätzt, verbannt die EU sonst an den Katzentisch der Geopolitik. Dieser Zielkonflikt gehört offen thematisiert, um eine strategische Debatte über die richtigen Prioritäten führen zu können.

WTO in der Krise

Die WTO ist nicht nur in einer Krise, weil ihre Liberalisierungsfunktion stark geschwächt, sondern auch weil ihre Funktion als Regeldurchsetzer in Frage gestellt ist. Denn das Kronjuwel der WTO, der Streitschlichtungsmechanismus, genauer dessen Berufungsinstanz (Appellate Body), ist handlungsunfähig, weil die USA die Ernennung von Schiedsexperten anhaltend blockiert haben. Das birgt die Gefahr, dass Handelskonflikte eskalieren und das Recht des Stärkeren wieder Raum greift.

Hinter der Unzufriedenheit der USA mit der Berufungsinstanz, die im Übrigen schon unter der Obama-Administration begann, liegen tiefere Ursachen, die letztlich viel mit der unfairen Konkurrenz durch China zu tun haben. Denn der Appellate Body hat die Möglichkeiten deutlich eingeschränkt, Handelsschutzinstrumente gegen gedumpte und subventionierte Importe zu nutzen. Allerdings liegt der Ball jetzt im Spielfeld der USA, weil sowohl in der WTO als auch durch die EU (im Anhang ihrer neuen Handelsstrategie) Vorschläge unterbreitet wurden, die die berechtigte Kritik der USA aufgreifen und Reformen der Berufungsinstanz vorsehen.

Es bleibt abzuwarten, ob die Biden-Administration nach erfreulich positiven Signalen in der transatlantischen Wirtschaftsbeziehung auch in der Lage sein wird, sich bei der WTO und vor allem mit Blick auf die nötige Reform des Appellate Body konstruktiv zu engagieren. Möglicherweise wird dies noch nicht in diesem Jahr möglich sein. Allerdings ist zu beachten, dass es auch der Zustimmung Chinas bedarf, da WTO-Beschlüsse üblicherweise einstimmig erfolgen müssen.

Marktverzerrungen durch China als elementares Problem der Welthandelsordnung

Chinas Staatskapitalismus hat sich für die heimische Wirtschaft als erstaunlich erfolgreich erwiesen. Doch die intensive Industriepolitik erzeugt aufgrund von Chinas enormer wirtschaftlicher Größe zunehmend Spillovers auf dem Weltmarkt. Sie basiert auf immer größeren Staatsunternehmen und sehr hohen und komplexen Subventionen, die bei Produktionsfaktoren wie Arbeit, Kapital und Boden beginnen, sich über Rohstoffe und Metalle als wichtige Inputfaktoren fortsetzen, für wichtige und zunehmend auch für moderne Branchen umfangreiche Steuererleichterungen oder Transfers umfassen und bei großzügigen Exportkreditfinanzierungen enden. Deutsche und europäische Unternehmen bekommen diese unfaire Konkurrenz zunehmend auf dem Weltmarkt zu spüren und drohen ins Hintertreffen zu geraten. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass mit dem subventionierten technologischen Aufholen Chinas Wohlfahrtsverluste für die Industrieländer verbunden sein könnten.

Der immer mehr auf die Weltmärkte drängende chinesische Staatskapitalismus passt nicht zur einer multilateralen Welthandelsordnung, die auf fairen Wettbewerb und marktwirtschaftliche Prinzipien setzt

Der immer mehr auf die Weltmärkte drängende chinesische Staatskapitalismus passt nicht zur einer multilateralen Welthandelsordnung, die auf fairen Wettbewerb und marktwirtschaftliche Prinzipien setzt. Viele Industriestaaten subventionieren zwar auch in gewissen Maß ihre Wirtschaft, aber nicht in dem enormen Ausmaß wie China, wie Studien der OECD zeigen. Wenn China nicht riskieren will, dass die Welthandelsordnung mittelfristig wegen seiner Wettbewerbsverzerrungen immer weiter erodiert, muss es einer WTO-Reform zustimmen. Es geht um neue Regeln für den Umgang mit Dumping und vor allem mit marktverzerrenden Subventionen, sodass die EU und andere Länder stärkere Schutzinstrumente erhalten, um ihre Industrien vor dem schleichenden Niedergang zu bewahren. Wenn Peking hier wie in der Vergangenheit weiter blockiert, wird die WTO kaum aus der Krise herausfinden können. Vielmehr werden die Konkurrenten Chinas zunehmend selbst stärker Schutzinstrumente nutzen, auch wenn diese nicht mehr von den WTO-Regeln abgedeckt sind. In einem solchen Szenario sind die umfangreichen und weiter bestehenden Strafzölle der USA auf chinesische Importe möglicherweise erst der Anfang der WTO-Erosion.

Die EU gehört beim Thema Wettbewerbsverzerrungen klar an die Seite der USA, der neue transatlantische Trade and Technology Council ist in dieser Hinsicht ein wichtiger Schritt. Denn allein wird Brüssel Peking sicherlich nicht umstimmen, nur mit den USA und anderen Staaten besteht hier eine Chance. Die nächsten Jahre muss gemeinsam Druck auf China aufgebaut werden. Wenn selbst dann Chinas Blockade in der WTO nicht endet, sollten die EU, die USA und andere marktwirtschaftliche Staaten möglicherweise sogar als Ultima Ratio über Alternativen zur WTO nachdenken.

Neue Konflikte durch drohende Überfrachtung der Handelspolitik

Weitere Gefahren für die Globalisierung und die internationale Handelsordnung drohen durch eine Überfrachtung der Handelspolitik mit Nachhaltigkeitszielen. Das betrifft insbesondere den Green Deal der EU und die damit eng verbundenen Planungen für einen Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM). Damit soll der Wettbewerbsnachteil der europäischen Wirtschaft durch deutlich steigende Klimaschutzkosten verringert werden. Es ist jedoch nicht absehbar, wie dieses Instrument in der Breite einen wirksamen Schutz vor Nachteilen bieten soll, da die Vorschläge der EU-Kommission sich nur auf wenige Branchen beziehen, selbst hier Kostenerhöhungen in weiteren Stufen der Wertschöpfungskette nicht berücksichtigen und keinen Mechanismus vorsehen, um europäische Exporte auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu halten.

Der EU als Vorreiter im Klimaschutz werden nur dann andere Staaten folgen, wenn der europäische Weg erfolgreich bleibt

Obwohl auf diese Weise der Versuch gemacht wird, einen europäischen CBAM WTO-konform zu gestalten, ist der Widerstand anderer Handelspartner programmiert, die hier Protektionismus vermuten und ihrerseits mit Vergeltungsmaßnahmen reagieren dürften. Klimaklubs könnten potenziell einen Ausweg bieten, doch nur wenn die wichtigsten europäischen Handelspartner dabei sind und zugleich bei allen Beteiligten ähnlich hohe Klimaschutzkosten entstehen, sodass Wettbewerbsnachteile weitgehend vermieden werden. Dies erscheint jedoch schwer erreichbar. Je weniger die Probleme mit einem CBAM oder einem Klimaklub zufriedenstellend zu lösen sind, desto vorsichtiger und einfallsreicher muss man bei der Umsetzung des Green Deal mit Blick auf die industrielle Wettbewerbsfähigkeit sein, um die europäische Industriebasis nicht zu gefährden und Carbon Leakage zu verhindern. Der EU als Vorreiter im Klimaschutz werden nur dann andere Staaten folgen, wenn der europäische Weg erfolgreich bleibt.

Auch bei Lieferkettengesetze zeigen sich gravierende Zielkonflikte, die zu wenig beachtet werden. Auch diese können zu einem Rückbau der Globalisierung führen. So sehr das Ziel erstrebenswert ist, Menschenrechte und hohe Nachhaltigkeitsstandards überall durchzusetzen, so ungeeignet ist der Weg über Lieferkettenvorschriften. Denn sie wirken letztlich wie Handelsbarrieren zum Schaden derer, denen man eigentlich helfen will. Wenn sich europäische Firmen aus armen Entwicklungsländern mit schlechten Governance-Standards zurückziehen, ist den Menschen dort nicht geholfen. Und es erscheint auch nicht sehr wahrscheinlich, dass herrschende Eliten dort plötzlich für mehr Menschenrechte und Nachhaltigkeit sorgen, nur weil die EU hier ihre Priorität setzt und einen gewissen Druck aufbaut. Dazu erscheint die Marktkraft der EU – gerade mit Blick auf die Zukunft nicht mehr stark genug – und es gibt etwa mit Blick auf China andere Abnehmer, die weniger hohe Standards setzen.

Zudem bürden die avisierten Lieferkettenregeln gerade mittelständischen Firmen in der EU enorme Bürokratielasten und Rechtsrisiken auf. Angesichts der gerade erst allmählich abklingenden Pandemie trägt dies ebenfalls zur Schwächung der Wohlstandsbasis in Europa bei, ohne wirklich greifbare Vorteile in den Entwicklungsländern zu bieten.

Fazit

Die EU muss sich der genannten Zielkonflikte bewusst werden und strategische Prioritäten setzen. Dabei ist mit Blick auf die Zukunft entscheidend, dass die transformativen demografischen und klimapolitischen Herausforderungen in den 2020er Jahren ein Weiter so beim Wohlstandszuwachs erschweren. Wenn Wachstum weniger selbstverständlich wird und die Strahlkraft der EU noch weiter abnimmt, sollten handelspolitische Maßnahmen zur Wohlstandssicherung Vorrang haben. Andernfalls droht der Globalisierung ein weiterer Rückschlag, weil noch mehr Menschen auf die Seite der Kritiker wechseln würden.

Zum Gastbeitrag auf makronom.de

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