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(© Foto: GettyImages)
Jürgen Matthes auf Focus online Gastbeitrag 16. Juli 2020

Trotz guter Absicht: Der EU-Krisenfonds ist ein Etikettenschwindel

Die enorme Schuldenaufnahme und die Vergabe von Transfers statt Krediten werden mit der schwerwiegenden Corona-Krise gerechtfertigt. Doch der Wiederaufbaufonds ist eher ein mittelfristiger Plan zur Stärkung der EU und kein wirklicher Krisenfonds, der kurzfristig bei der Erholung aus dem Krisental hilft, schreibt IW-Ökonom Jürgen Matthes in einem Gastbeitrag für Focus online.

Die Verteilung der Hilfsgelder auf die EU-Länder richtet sich nur wenig nach den Krisenfolgen. Vielmehr sollen vor allem mittelfristige Ziele wie Klimaschutz und Digitalisierung gefördert werden. Und nur ein begrenzter Teil der Mittel dürfte – auch aufgrund von Zeitverzögerungen in der Verwaltung - nach derzeitigen Planungen zeitnah ausgezahlt werden. Nach dem Vorschlag von EU-Ratspräsident Michel sollen zwar rund 70 Prozent der Zuwendungs-Auszahlungen aus der sogenannten Aufbau- und Resilienzfazilität (RFF) von insgesamt 310 Milliarden Euro in den Jahren 2021 und 2022 ausgezahlt werden. Doch die Kriterien für die Auszahlung dieser Gelder haben mit den Krisenfolgen nichts zu tun. Dabei wäre es durchaus möglich, die Auszahlungen schon in 2021 nach dem BIP-Einbruch und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in 2020 im Vergleich zum EU-Durchschnitt auszurichten.

Corona-Krise genutzt für „zweiten“ EU-Haushalt

Es scheint daher so, also ob die EU-Staaten und die EU-Kommission die Corona-Krise nutzen wollen, um ihre Konflikte bei den kontroversen Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen von 2021 bis 2027 zu entschärfen. Denn das erschien bislang wie die Quadratur des Kreises: Wegen des Brexits fehlt Geld, es sollen neue Prioritäten wie Verteidigung, Außengrenzensicherung, grenzüberschreitende Infrastruktur und Innovation gefördert werden, aber bei Agrar- und Kohäsionsfonds will man kaum kürzen – und deutlich mehr Geld sollte es eigentlich auch nicht geben.

Durch die hohe Kreditaufnahme stehen für die nächsten drei bis vier Jahre deutlich mehr Mittel zur Verfügung. Es wird also quasi ein zweiter EU-Haushalt neben den normalen gestellt. Weil es die Corona-Krise ansonsten erschweren würde, wichtige EU-Ziele mittelfristig zu erreichen, ist das durchaus akzeptabel. Aber dann sollte man es auch offen sagen.

Korruptionsgefahr wegen der Aufweichung von Rechtsstaatlichkeits-Kriterien

Auch wenn die Idee eines mittelfristigen Wiederaufbaufonds grundsätzlich richtig ist, drohen mit den derzeitigen Planungen Gelder zu versickern und fragwürdige Prioritäten bei der Mittelverwendung gesetzt zu werden.

Der Zwang, die Zustimmung aller östlichen EU-Staaten erhalten zu müssen, führt zu höchst problematischen Kompromissen. So will der EU-Ratspräsident die dringend nötigen Vorgaben für die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeitsprinzipien aufweichen, um ein Veto von Ländern wie Polen und Ungarn zu verhindern. Doch wenn nicht mehr genug Verlass auf Verwaltungsbeamte und Gerichte ist, drohen die Gelder in korrupten Kanälen zu versickern und die Macht der Regierungen, die demokratische Werte mit Füßen treten, noch weiter zu stärken.

Eine bessere Lösung wäre ein vom EU-Haushalt losgelöster intergouvernementaler Fonds unter freiwilliger Beteiligung der östlichen EU-Staaten. Das würde ihnen die Vetomacht nehmen. Und die Hilfsgelder würden – gemäß dem Grundprinzip des Wiederaufbaufonds - vorwiegend aus den wohlhabenderen und weniger von der Corona-Krise betroffenen EU-Staaten in Nordwesteuropa in die stärker betroffenen Staaten in Südeuropa fließen.

Auch mangelnde Kontrollen erhöhen Versickerungsgefahr

Bei der allgemeinen Umsetzung des Wiederaufbaufonds, ist ebenfalls nicht genug gesichert, dass die Mittel wirklich effizient und zur Stärkung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit eingesetzt werden.

Die Europäische Kommission hatte vorgeschlagen, dass die EU-Länder Investitions- und Reformpläne erstellen sollten, die die Brüsseler Beamten dann kontrollieren und überwachen würden. Das wäre problematisch, weil die Kommission einem großen politischen Druck aus den Empfängerländern ausgeliefert wäre. Die Gefahr würde bestehen, dass Pläne zu wenig ehrgeizig sind und nicht konsequent umgesetzt werden.

Die EU-Mitgliedstaaten (der Rat) hätten eine Auszahlung der Gelder nur verhindern können, wenn sie eine qualifizierte Mehrheit gegen eine Zahlungsempfehlung der Kommission zustande gebracht hätten. Der EU-Ratspräsident hat zu Recht vorgeschlagen, dass im Rat eine qualifizierte Mehrheit für Auszahlungen nötig sein soll. Das ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung. Doch sind Kontrollen erst für 2022 vorgesehen. Damit dürften die Gelder in den ersten beiden Jahren weitgehend ohne Prüfung ausgezahlt werden. Das ist höchst problematisch.

Dabei wäre es durchaus möglich, die Kontrollen vor der Auszahlung vorzunehmen. Da der Wiederaufbaufonds wie aufgezeigt kein kurzfristiger Krisenfonds ist, besteht auch kein so großer Zeitdruck. Die EU-Staaten könnten in den nächsten Monaten zügig ihre Pläne aufstellen, die Kommission könnte sie zeitnah prüfen. Und dann könnte der Rat die Mittel, ausreichenden Ehrgeiz der Pläne vorausgesetzt, noch bald im Jahr 2021 freigeben.

Mangelnde Priorisierung bei der Mittelverwendung

Ein „zweiter“ EU-Haushalt schafft eigentlich die Möglichkeit, die Mittel stärker auf die wirklich wichtigen Ziele auszurichten. Doch die bisherigen Planungen sehen fragwürdige Prioritäten vor.

Durch die Corona-Krise ist der Bedarf an Unterstützung zur wirtschaftlichen Angleichung vor allem in Südeuropa gewachsen. Schon vor der Corona-Krise kam es hier zu Wohlstandsverlusten relativ zum EU-Durchschnitt. Doch zu viele der knappen Hilfsgelder sollen in Staaten wie Polen und andere östliche EU-Mitgliedstaaten fließen, die nur wenig von der Corona-Krise betroffen sind und die beim bestehenden EU-Haushalt in der Kohäsionspolitik ohnehin schon stark gefördert werden.

Zwar soll ein erheblicher Teil des „Wiederaufbaufonds“ zu Recht in die Förderung von Digitalisierung und Klimaschutz fließen. Doch gerade für die östlichen EU-Mitgliedstaaten sollen Gelder auch für Agrarhilfen verwendet werden. Dieser Bereich gehört stattdessen deutlich gekürzt. Wichtige neue Prioritäten drohen dagegen viel zu kurz zu kommen. Das gilt für echte europäische öffentliche Güter wie europäische Verteidigung, eine bessere Sicherung der Außengrenzen und mehr grenzüberschreitende Infrastruktur. Für diese Zwecke sieht der Wiederaufbaufonds keine zusätzlichen Mittel vorsieht, teilweise hat der EU-Ratspräsident hier zuletzt sogar noch leichte Kürzungen vorgeschlagen. Es ist folglich dringend eine Re-Priorisierung bei der Mittelverwendung nötig.

Zum Gastbeitrag auf focus.de

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