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Michael Hüther Gastbeitrag 16. Februar 2006

Die Vertreibung aus dem Paradies

Die Gewerkschaften stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Strategie der Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich.

Steigende Lebenserwartung, sinkende Lebensarbeitszeit und fortlaufende Mehrung des Wohlstands: aus diesen Begriffen war das Märchen gewoben, das uns lange Zeit das Paradies auf Erden versprach. Diese Verheißung beruhte auf der Fiktion, dass der technische Fortschritt es quasi alleine richten werde. Dabei musste man schon mit kindlicher Naivität gesegnet sein, um diesen Erzählungen Glauben zu schenken.

Die Phantasie hat vielfach den Blick auf die schlichte Logik der Lebenswirklichkeit verstellt. Eine heißt, dass wir Einkommen und Wohlstand nur aus der Kombination von Arbeitszeit und Arbeitsproduktivität erwirtschaften können. Wer sich lediglich auf eines verlässt, der organisiert Wachstumsverluste. Deutschland hat dies getan. Wachstum wird bei uns seit langem ausschließlich durch die Arbeitsproduktivität getragen, während das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen rückläufig ist und dadurch Chancen vergeben werden.

Diese Entwicklung ist durch die über Jahrzehnte hinweg verfolgte Strategie der Arbeitszeitverkürzung wesentlich mitverursacht. Was Ausdruck wachsenden Wohlstands sein sollte, wurde zur Wohlstandsbremse. Die Erwartung, dass die deutsche Volkswirtschaft dauerhaft durch eine höhere Produktivitätssteigerung im internationalen Rahmen glänzen kann, wurde im Laufe der Jahrzehnte immer unrealistischer. Denn der globale Wettbewerb, vor allem die Internationalisierung der Produktion erodierten technologisch-organisatorische Vorsprünge sehr schnell. In den relevanten Märkten kann man nur mit dem jeweiligen technischen Standard erfolgreich sein. Technik schenkt keine dauerhaften Wachstumsvorsprünge. Das gibt es nur im Märchen.

Dass die gesamtwirtschaftliche Logik auch betriebswirtschaftlich greift, können wir derzeit beim Blick auf den Automobilbau beobachten. Volkswagen hat in seinen deutschen Werken die Arbeitszeitverkürzung mit der Viertagewoche auf die Spitze getrieben. Das Produktivitätswunder hat sich dagegen unerhörterweise nicht nach der Ideologie der Arbeitszeitrationierung gerichtet. Schlimmer noch: Der Bau eines Autos dauert in diesen Werken doppelt so lange wie bei den Wettbewerbern. Unabhängig von den im Schnitt um 20 Prozent höheren Vergütungen nach dem VW-Haustarif im Vergleich zum Flächentarif der Metall- und Elektroindustrie in Niedersachsen wurde dadurch ein gravierendes Arbeitskostenproblem verursacht.

Die notwendige Anpassung über Arbeitszeit, Lohn und Produktivität wird schmerzlich sein. Das ist immer so, wenn Schutzräume in den Unternehmen, die zu Lasten der Kunden und Anteilseigner wirkten, geschleift werden.

Nicht grundsätzlich anders wird dies im öffentlichen Dienst sein. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi verantwortet einen Streik, der nur sinnvoll wäre, wenn man den öffentlichen Dienst als große Arbeitsbeschaffungsmaßnahme betrachtet. Das aber ist nicht seine Legitimation. Ordnungspolitisch betrachtet, ist der Staat ein Anbieter von Dienstleistungen, die andernfalls nicht oder nicht im gewünschten Umfang erbracht würden. In der Freiheitsgesellschaft kann nur Marktversagen die Staatstätigkeit begründen. Wo Zweifel bestehen, können wir, wie schon vielfach geschehen, durch einen Test auf Privatisierbarkeit Orientierung schaffen.

Der Dienstleistungsauftrag des Staates muss auf Grund seiner Finanzierungskonsequenzen so effizient wie möglich erbracht werden. Da auch im öffentlichen Bereich das Produktivitätswunder keine bleibende Wirkung hinterlässt, müssen sich Arbeitszeiten und Vergütungssysteme an den Wettbewerbsbedingungen orientieren. An einer Wochenarbeitszeit von 40 oder gar 42 Stunden führt kein Weg vorbei; leistungsabhängige Entlohnung kann effizienzsteigernd wirken. Die Steuer zahlenden Leistungsträger und Unternehmen unseres Landes werden es langfristig durch größeres Engagement danken. Der von Verdi angezettelte Streik passt zu dem Versuch, in der Lohnpolitik nach Jahren moderater Abschlüsse eine neue Umverteilung zu Gunsten der Arbeitnehmer zu erreichen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass in den vergangenen zehn Jahren die Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer real um drei Prozent geschrumpft seien.

Diese Zahl ist richtig. Allerdings bildet sie den Sachzusammenhang Lohn und Beschäftigung nur sehr unvollständig ab. Dies geschieht erst durch die Berücksichtigung einer weiteren Zahl: Veränderung der realen Arbeitskosten je Stunde. Diese sind von 1995 bis 2005 um 13 Prozent angestiegen. Der Widerspruch beider Zahlen löst sich auf, wenn wir die Differenz von 16 Prozentpunkten aufgliedern: Gut die Hälfte geht auf die Verteuerung der Importe zurück, erfasst also steigende Einkommensansprüche des Auslands, angesichts der Rohstoffpreisentwicklung vor allem die Erdöl produzierenden Länder. Die andere Hälfte erklärt sich durch die Verkürzung der Arbeitszeit. Man könnte vereinfacht vom VW-Syndrom reden. Der positive Effekt der Steuerentlastungen 1996 sowie 2000 bis 2005 auf die Nettoeinkommen wurde durch den Anstieg der Sozialabgaben fast vollständig zunichte gemacht.

Wer über die Entwicklung der realen Nettolöhne klagt und daraus kräftige Lohnforderungen als berechtigt und angemessen ableitet, der übersieht die geldwerte Ausweitung der Freizeit. Die Gewerkschaften stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Strategie der Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich, die zu den Verlusten bei den Nettolöhnen geführt hat. Standorrverantwortung und Beschäftigungssicherung lassen weder eine Rückkehr zu dieser Strategie noch überzogene Lohnerhöhungen zu. Die Vertreibung aus dem Paradies kindlicher Naivität ist schmerzlich, aber unvermeidlich.

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