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Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung Gastbeitrag 13. Oktober 2009

Die Normalität als Ernstfall

Die eigentliche Herausforderung kommt für den Staat erst nach dem Ende der Weltwirtschaftskrise. Er bewegt sich dabei auf schmalem Grat.

Michael Hüther

Der Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise ist überwunden, doch Grund zur Euphorie besteht nicht. Die Konjunktur beginnt sich zu erholen, sie wird aber längere Zeit fragil bleiben. Diese Fragilität sollte nicht als Aufforderung für weitere Konjunkturmaßnahmen verstanden werden. Die kräftige Injektion konjunktureller Antidepressiva, die verabreicht wurde, muss erst noch ihre volle Wirkung entfalten. Die Unternehmen benötigen kein zusätzliches Stimulans, sondern es müssen jene Hindernisse beseitigt werden, die Kräfte zehren. Dies würde den Aufschwung und die Beschäftigung stabilisieren.

Deshalb sollten bei den Unternehmensteuern alle Elemente der Substanzbesteuerung abgeschafft werden, denn diese belasten die Liquidität der Unternehmen. Deshalb sollte der Kreditkreislauf gesichert werden, mit den bekannten Instrumenten über die KfW. Und deshalb ist es auch notwendig, den Markt für Verbriefungen wiederzubeleben.

Vor allem aber geht es jetzt um ein Thema, das in jeder Hinsicht große Reichweite hat: Wir müssen die Wirtschaftspolitik für den Normalzustand gestalten, für die Zeiten nach den schlimmsten Phasen der großen Krise. Nur so kann Vertrauen entstehen, nur so kann es gelingen, jene Erwartungen zu stabilisieren, die sich auf eine nachhaltig-dynamische Entwicklung der Wirtschaft richten.

Normalität: Das klingt banal, einfallslos und langweilig. Man könnte geneigt sein, solche Zeiten als wenig herausfordernd zu bewerten, während die große Krise der große Test für die Politik ist. Im Notstand erweist sich die Handlungsfähigkeit des modernen Staates. Er wird vor eine Aufgabe gestellt, die wir im Normalfall nicht von ihm erwarten: Der Staat als Versicherung für jene Risiken, gegen die kein Kollektiv, kein Einzelner, sich versichern kann. Gemeint sind Bedrohungen durch Krieg, Terror, Naturkatastrophen, Epidemien und eben auch globale Finanz- und Wirtschaftskrisen.

Es ist normal, dass wir für den Notstand kaum über Masterpläne verfügen. Kommt es zum Ernstfall, muss auf Sicht gehandelt werden – und das in einem engen Korsett aus unüberwindbaren Sachzwängen und zeitlichem Druck. Im Notstand sind die Alternativen begrenzt, es bleibt in der Regel nur die Frage, in welchem Umfang gehandelt werden soll. Mitunter besteht noch ein begrenzter Spielraum bei der zeitlichen Gestaltung.

Die Bundesregierung hat unter diesen Bedingungen in der Finanzmarktkrise zügig und schlüssig gehandelt. Die Suche nach Alternativen und entsprechende Dispute waren auf Gestaltungsdetails beschränkt. Das betraf das Finanzmarktrettungspaket, ebenso die konjunkturelle Stimulierung. Mühsamer wurde es schon bei einer bad bank.

Der eigentliche Reifetest für eine sachorientierte Wirtschaftspolitik steht aber in Zeiten der Normalität an. Die Versuchung, elegant über die Untiefen der sachlichen Zusammenhänge hinwegzugleiten, getarnt mit der Attitüde des Wohlmeinenden, ist dann besonders groß. Zugleich gilt: Die bedeutsamen Fehler werden nicht in der Krise gemacht, sondern dann, wenn es einem gut geht.

Unachtsamkeit, Nachlässigkeit, Überschätzung der eigenen Risikotragfähigkeit sind typische Verhaltensmuster, die keineswegs nur für die Politik gelten, sondern genauso für den Menschen in seiner Privatheit. Während dort aber die individuelle Verantwortung den Übermut oder Fehlmut diszipliniert, gelingt dies auf der politischen Ebene nicht so leicht. Die Dominanz von Verteilungsthemen, die einer rationalen Debatte schon im Grundsatz nur schwer zugänglich sind, führt in besseren Zeiten leicht zu einem Nachlassen fiskalischer Disziplin. Sehr gut war dies bei der großen Koalition erkennbar. Diese wurde nach anfänglicher Strenge in den Jahren 2007 und 2008 sehr lax und nutzte überplanmäßige Steuereinnahmen nicht für Steuersenkungen, sondern erhöhte die Ausgaben.

Die Erfüllung der dauerhaften Staatsaufgaben mag zwar durch Routine und Erfahrung geprägt sein, doch einen nachhaltig-sachorientierten Kurs kann man im demokratischen Gruppenstaat dabei nicht so leicht realisieren. Hier ist besonderes Stehvermögen gefordert, um den Ansprüchen widerstreitender Interessen und Ideologien einigermaßen zu entkommen.

Die Herausforderung liegt darin, gerade in normalen, in guten Zeiten die existentielle Krise als potentielle Bedrohung nicht aus dem Blick zu verlieren. Prophylaxe betrifft dabei sowohl die Regulierungsaufgaben als auch den Bereich staatlicher Leistungen. Die Regulierungen müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass der technisch- und marktgetriebene Fortschritt sich regelmäßig schneller vollzieht als die institutionell-regulatorischen Innovationen. Im Finanzmarkt ist dies sehr deutlich geworden.

Die Gestaltung der Normalität ist deshalb so fordernd, weil es um mehr geht als um Antworten für eine Generation. Die Gestaltung des öffentlichen Raums, also jener Lebenssphäre, in der wir nicht allein sind und die wir alleine nicht gestalten können, weist weit über die individuelle Lebensspanne hinaus. "Eine Welt, die Platz für Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein; sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen", schreibt Hannah Arendt in Vita Activa.

Das schärft die Anforderungen an den Staat, der diesen öffentlichen Raum ordnet; zugleich entlastet es ihn. Zum einen muss es darum gehen, Regeln zu definieren und zu sanktionieren, die unabhängig von den Bedingungen des Tages berechtigt sind. Zum anderen sollte der Staat sich nicht überfordern, indem er Detailregelungen des täglichen Miteinanders entwickelt. Der öffentliche Raum muss besondere Stabilitätserwartungen erfüllen. Nur dann kann Vertrauenskapital gebildet werden, das für die Wissens-, Arbeits- und Risikoteilung notwendig ist – und damit auch für Prosperität.

Die große, generationenübergreifende Aufgabe liegt jetzt darin, den demographischen Wandel als wichtige Determinante wirtschaftlichen Wachstums und gesellschaftlicher Stabilität endlich im positiven Sinne anzunehmen und gesamthaft zu gestalten. Wiederum bei Hannah Arendt finden wir folgenden Hinweis von großer Weitsicht: "Während die Beständigkeit der Welt der Stabilität von Strukturen geschuldet ist, deren eigentliche Funktion es ist, Prozessen zu widerstehen, können Reichtum und Besitz sich nur halten, wenn sie 'beweglich' werden, also in Form eines Prozesses."

Dies lässt den schmalen Grat erkennen, auf dem die staatliche Organisation zu entwickeln ist: sich auf die entscheidenden Regulierungsprinzipien zu besinnen und diese mit Kraft und ohne Zaudern durchzusetzen. Das zu gestalten, ist die Aufgabe für normale Zeiten. Dafür erteilen Krisen nur Lektionen. Fatal wäre es jedoch, wollte man aus der krisenhaften Zerrüttung wirtschaftlicher Zusammenhänge ableiten, eine Staatstätigkeit neuer Qualität sei auf Dauer geboten. Stattdessen ist die Aufgabe der Konsolidierung schnell zu klären. Das erst lässt die notwendigen Konjunkturimpulse, die der Staat in der Krise gegeben hat, nachhaltig wirken. Ansonsten würden diese Maßnahmen dadurch konterkariert, dass Bürger und Unternehmen künftige Steuererhöhungen erwarten.

Im Kern muss es bei der Gestaltung der Freiheitsordnung darum gehen, das Problem der Macht in den Griff zu bekommen. Macht kann sich gleichermaßen in der Überdehnung eigener wie in der Ignoranz fremder Eigentumsrechte äußern, jeweils mit der Folge erfolgreicher Ausbeutung. Die Vermeidung von Ausbeutungsstrategien wird nur gelingen, wenn der Dreiklang aus Eigentumsrechten, Vertragsfreiheit und Haftung unmissverständlich auf dem Prinzip der gegenseitigen Bedingung und Zähmung beruht. Eine wichtige Einhegung erfahren Privateigentum und Vertragsfreiheit durch den Grundsatz der Haftung.

Als sichere Erwartungsgröße wirkt Haftung prophylaktisch. Wer für sein Handeln haften muss, disponiert vorsichtiger mit Kapital. Wenn die Haftung nicht beschränkt ist oder ausgeschlossen, dämpft dies zudem den Prozess der wirtschaftlichen Konzentration. Da nahm die große Krise an den Kreditmärkten ihren Ausgang. Deshalb sind kluge Regulierungen zu finden, die das Haftungsprinzip unausweichlich werden lassen. Selbstbehalte von Finanzinvestoren entsprächen dem, schlichte Verbote von Finanzinnovationen wohl kaum.

Die Suche nach der möglichen Stabilität ist ein permanenter Lernprozess, ein permanentes Abwägen durchaus widerstreitender Argumente. So finden wir es bereits bei Wilhelm von Humboldt: "Der Staat muss, in Absicht der Grenzen seiner Wirksamkeit, den wirklichen Zustand der Dinge der richtigen und wahren Theorie insoweit nähern, als ihm die Möglichkeit dies erlaubt und ihn nicht Gründe wahrer Notwendigkeit daran hindern. Die Möglichkeit aber beruht darauf, dass die Menschen empfänglich genug für die Freiheit sind, die die Theorie allemal lehrt, dass diese die heilsamen Folgen äußern kann, die sie an sich, ohne entgegenstehende Hindernisse, immer begleiten; die entgegenarbeitende Notwendigkeit darauf, dass die auf einmal gewährte Freiheit nicht Resultate zerstöre, ohne die nicht jeder fernere Fortschritt, sondern die Existenz selbst in Gefahr gerät. Beides muss immer aus der sorgfältig angestellten Vergleichung der gegenwärtigen und der veränderten Lage und ihrer beiderseitigen Folgen beurteilt werden."

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