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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 31. März 2011

Der Staat kann nur stark sein, wenn er sich beschränkt

Deutschland steht vor scharfen Verteilungskonflikten. Die Umsetzung der Schuldenbremse für Bund und Länder bis 2016 respektive 2020 verlangt nach einer grundlegenden Revision der staatlichen Aufgaben und Ausgaben.

Die Bundesregierung muss jetzt den Staatsapparat, der durch die Reformen der Sozial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik der sechziger und siebziger Jahre entstanden ist, für ein schrumpfendes, wachstumsschwächeres Land zurechtstutzen. Dabei muss sie mit Gegenwind rechnen. Die politischen und öffentlichen Reaktionen auf die Hartz-Reformen haben deutlich gemacht, wie schwer es im demokratischen Gruppenstaat fällt, einmal begründete Leistungen zu kürzen. Es geht jetzt nicht nur um unterschiedliche Interessen und Betroffenheit. Vielmehr erfordert die anstehende Überprüfung der Staatstätigkeit einen grundlegenden Wandel lange eingeübter Verhaltensweisen und Verfahren und wird deshalb auf erheblichen Widerstand stoßen.

Vor rund vierzig Jahren wurden bedeutsame Prozesse in Gang gesetzt, die bis heute die Gesellschaft prägen. Zur Mitte der sechziger Jahre war der Wiederaufbau beendet, es entstand Raum für andere Prioritäten und die Forcierung ausgabenträchtiger Projekte.

Dies geschah zunächst in der Bildungspolitik: Nachdem schon in den frühen sechziger Jahren der Bildungsnotstand ausgerufen worden war, setzte die sozialliberale Koalition programmatisch auf die Bildungsexpansion. Das System der allgemeinbildenden Schulen sollte durchlässiger werden und mehr junge Menschen zur Hochschulreife bringen.

Das hehre Ziel wurde jedoch ohne angemessene Evaluierung angesteuert. Zu Beginn der siebziger Jahre beschlossen die Kultusminister sogar ausdrücklich, nicht mehr an internationalen Vergleichsstudien teilzunehmen. Das Ergebnis ist heute für jeden offenkundig: Das Ziel wurde weitgehend verfehlt, und gemessen an den Kriterien internationaler Bildungsvergleiche (Pisa-Studien), schneidet Deutschland nicht zufriedenstellend ab. Die Reformen der sechziger und siebziger Jahre haben uns in eine Situation gebracht, aus der wir nur mit Mühe und mit einem finanziellen Aufwand, der Länder und Kommunen fast überfordert, herauskommen. Zudem müssen wir enorme Folgekosten des bildungspolitischen Versagens in den Sozialsystemen feststellen.

Ähnlich wie in der Bildungspolitik haben uns auch in der Sozialpolitik lange Zeit deren Effektivität wie Effizienz nicht wirklich interessiert. Der nach 1970 begonnene Ausbau des Wohlfahrtsstaats wurde stets an den verfügbaren Mitteln gemessen. Neue Leistungen waren Teil eines umfassenden Reformverständnisses. Die Verringerung des Renteneintrittsalters auf 63 Jahre manifestierte das Versprechen einer neuen Wohlstandsperspektive. Dass diese Versprechen nicht eingehalten werden konnten, wird aber meist nicht der sozialpolitischen Selbstüberforderung zugeschrieben, sondern vermeintlich exogenen Zwängen wie der Globalisierung. Jede Neujustierung erscheint dann als ungerechtfertigte Rücknahme einst realisierten Fortschritts.

Dieser Fortschrittseuphorie war auch die 1967 mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz institutionalisierte Konjunkturpolitik geschuldet. Doch das Gesetz führte nicht zu einem konsequent antizyklischen Handeln, es war vielmehr die Ermächtigung für eine permanente Neuverschuldungspolitik. Der investive Gedanke einer Glättung des Konjunkturzyklus über Rezession und Boom hinweg ging völlig verloren.

Zusätzlich zu diesem Treibsatz der Verschuldungspolitik entfaltete die Finanzreform von 1969 mit ihrem Umbau der föderalen Finanzbeziehungen zum Kooperationssystem fatale Anreizwirkungen. Weder für die Nehmer noch für die Geber unter den Bundesländern ist es seither attraktiv, für eine durch Wirtschaftskraft unterlegte Dynamik der Steuereinnahmen zu sorgen. Der gemeinsamen Verantwortungslosigkeit wurde die Tür geöffnet. Dieser kurze Blick zurück macht deutlich, wie sehr wir heute in Systemen und Strukturen gefangen sind, die unsere Handlungsfähigkeit einschränken und zur Verschwendung einladen. Die anstehende Revision der Staatstätigkeit wird nur gelingen, wenn sie ein neues Verständnis der Verantwortungsteilung zwischen Privat und Staat repräsentiert. Die Regierung muss den Bürger befähigen, ein höheres Maß an Mitverantwortung für die gemeinsamen Angelegenheiten zu übernehmen– das entlastet dann auch den Staat.

Was ist konkret zu tun? Im Bildungssystem besteht die große Chance in der Nutzung der demografischen Rendite in Form sinkender Schülerzahlen. Beispielsweise werden in Hessen dadurch bis 2020 knapp 700 Millionen Euro zusätzlich verfügbar. Damit stünden je Schüler 6.600 Euro im Jahr statt derzeit 5.300 Euro zur Verfügung. So werden Ganztagsschulen, bessere Schüler-Lehrer-Relationen und individuelle Förderung möglich. Dies trägt aber nur, wenn es durch angemessene Evaluierungen und internationale Vergleichsstudien begleitet wird. In der Sozialpolitik darf es kein Zurück hinter die Verknüpfung von Fördern und Fordern geben; die Anreize der Grundsicherung zur Arbeitsaufnahme sind weiterzuentwickeln.

Von überwölbender Bedeutung ist die Schuldenbremse, weil sie für einen Paradigmenwechsel steht. Der Staat wird aus seiner ihn überfordernden konjunkturpolitischen Verantwortung entlassen und ganz im Sinne von Keynes nur noch für schwere Krisen– wie 2008/09– als zuständig erklärt. Über den Konjunkturzyklus aber ist der Staatshaushalt auszugleichen. Wir müssen wieder lernen, dass konjunkturelle Anpassungen funktionale Krisen sind. Stark kann der Staat nur dort sein, wo er nicht zum Versagen verdammt ist.

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