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Jürgen Zöllner und Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 19. Dezember 2007

Der große Sprung bei Pisa kommt 2012

Bei Pisa stagnieren wir in Mathe, und beim Lesen liegen wir nach kleinen Fortschritten nur im Mittelfeld. Können wir uns dieses langsame Tempo leisten?

Zöllner: Wir sollten das Gute nicht ignorieren: In den Naturwissenschaften sind wir besser geworden. Das ist insgesamt kein Grund zum Jubeln, aber Anlass zur Zuversicht. Die riesigen Reformanstrengungen des gesamten Systems können sich noch gar nicht bei den 15-Jährigen niederschlagen, die Pisa testet, weil der Schwung primär in Grundschule und Vorschule angesetzt hat. Das zeigt der Grundschul-Lesetest Iglu, wo wir besser geworden sind und jetzt in der Spitzengruppe liegen.

Hüther: Die Richtung stimmt, aber das Tempo ist nicht hoch genug. Die Länder haben seit der Föderalismusreform die komplette Zuständigkeit für die Bildung – ich habe nicht den Eindruck, dass das das Tempo erhöht. Ein Grund ist, dass wir die empirische Bildungsforschung haben brachliegen lassen, bis die Länder jetzt mit dem Bund ein neues Programm aufgelegt haben

Zöllner: Ich gebe Ihnen in Details recht, Ihrer Grundaussage widerspreche ich völlig: Die Veränderungen im Bildungssystem sind so stark wie in keinem anderen gesellschaftlichen System. Und in aller Bescheidenheit: Weder die Medien noch die Wirtschaft haben die Bildung zum zentralen Thema für die Zukunftsfähigkeit gemacht, sondern Pisa. Und das verantworten die Kultusminister. Ich selbst habe damals beantragt, dass wir bei Pisa mitmachen, wohlwissend, dass der internationale Vergleich uns zeigen wird, dass wir einige Zeit verpasst haben. Zur Bildungsforschung stimme ich Ihnen völlig zu. Aber bei den entscheidenden Weichenstellungen haben wir kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit – beim Ausbau der Vorschule, bei den nötigen integrativen Ansätzen etc. Wir können nicht zufrieden sein, aber was bislang zu erreichen war, haben wir erreicht.

Wann machen wir bei Pisa den großen Sprung: 2009, 2012?

Zöllner: Realistischerweise erst 2012. Erinnern Sie sich: Noch Ende der 90er hatten wir einen Konsens, dass die Grundschule Spielschule sein sollte. Und heute? Heute wollen wir Bildung im Kindergarten und in den Schulen mehr Unterricht. Ich selbst habe in Rheinland-P/alz Mitte der 90er-Jahre die volle Halbtagsgrundschule eingeführt, und das Bildungsbürgertum hat mir vorgeworden, ich nähme ihnen ihre Kinder weg. Heute ist der unbestrittene Ansatz die Ganztagsschule.

Hüther: Aber wir können doch nicht nur warten, dass Reformen von unten her wirken. Wir müssen mehr investieren in die Problemjahrgänge, die schon im System sind. Verschlimmert wird deren Lage noch dadurch, dass Länder wie Bayern, Hessen und NRW die richtige Umstellung auf das achtjährige Gymnasium so stümperhaft organisieren, dass die heute 11-, 12-Jährigen von den Reformen nicht profitieren. Kein Unternehmen wagt Umstellungen ohne Investitionen, aber der Umbau auf "G 8" soll aus der Portokasse bezahlt werden.

Herr Zöllner sagt, Geld ist nicht das Problem – obwohl wir im internationalen Vergleich eher wenig für Bildung ausgeben.

Zöllner: Natürlich wäre mehr Geld hilfreich. Aber das darf nicht davon ablenken, dass anderes in einigen Bereichen sogar wichtiger ist. Gerade Pisa zeigt, dass es keinen relevanten Zusammenhang zwischen Ausgaben und Erfolg gibt. Natürlich müssen wir mehr investieren, aber den Problemen müssen wir vor allem mit individueller Förderung jedes einzelnen Kindes, mit Ganztagsschulen, mit Qualitätssicherung in den Schulen und Teamarbeit begegnen.

Hüther: Flächendeckende Ganztagsschulen kosten 8,5 Mrd. Euro Umstellungskosten und 5,7 Mrd. laufende Zusatzkosten. Zudem müsste man mal US-Studien empirisch prüfen, wonach die Klassengröße angeblich keinen Effekt hat. Da sind wir gerade beim "G 8" im Blindflug unterwegs. Die Folge ist, dass weniger Kinder aufs Gymnasium gehen und mehr von dort auf die Realschulen zurückgeschickt werden. Hier lösen die Länder ihre Versprechen nicht ein.

Zöllner: Beim "G 8" waren die Probleme von Anfang an klar. Deshalb bietet Rheinland-Pfalz als einziges Bundesland das "G 8" nur in Ganztagsschulen an und setzt ansonsten auf zwölfeinhalb Schuljahre. Andere .haben jetzt Probleme mit der Organisation und brauchen zudem viel mehr Geld, weil die Jüngeren mehr Unterricht bekommen und die Älteren noch nicht aus dem System raus sind. Einsparungen gibt es erst, wenn sie nicht mehr nötig sind, weil die Schülerzahl ohnehin zurückgeht.

Hüther: Aber die großen Anstöße wie das Ganztagsschulprogramm kamen vom Bund.

Zöllner: Und warum? Weil die SPD in Rheinland-Pfalz vorher damit die Wahl gewonnen hat.

Das mit vier Mrd. Euro dotierte Ganztagsschulprogramm des Bundes läuft aus: Hoffen Sie auf eine Fortsetzung?

Zöllner: Ich bin überzeugt, die Ganztagsschule wird zum Normalfall für alle Schularten. Es fragt sich nur, wie schnell das geht – das hängt auch vom Geld ab. In Berlin sind wir bei den Grundschulen so weit, ich werde das für die anderen Schularten antreiben. Ich weiß aber genau, dass ich morgen und übermorgen dafür vom Bund kein weiteres Geld kriege.

Viele Ihrer Unionskollegen sehen die Ganztagsschule aber noch lange nicht als Wunsch-Norm.

Zöllner: Am Anfang waren manche auch gegen Bildungsstandards für Kindergärten. Das ist heute unumstritten.

Hüther: Wenn wir Prioritäten setzen, müssen wir auch die Bildungspolitik richtig justieren: Dann müsste es auch möglich sein, hier ein paar Milliarden mehr reinzugeben. Bei Hartz IV haben wir sechs bis sieben Mrd. Euro mehr ins System gegeben. Aber so weit reicht es immer noch nicht.

Zöllner: Also gut. Ich könnte auch drei Mrd. mehr gut brauchen. Die entscheidende Frage ist aber nicht das "G 8", sondern die Schulstruktur: Wie machen wir gegliederte und integrative Modelle kompatibel?

Wie denn?

Zöllner: Chancengleichheit lässt sich leichter organisieren, wenn man lange gemeinsam unterrichtet. Es geht auch im gegliederten System, ist aber schwieriger. Andererseits muss man akzeptieren, dass man Kinder besser fördern kann, wenn eher theoretisch begabte in einer anderen Gruppe lernen als die, die eher praktisch veranlagt und nicht daran interessiert sind, Aristoteles im Original zu lesen. Also brauchen wir ein gemeinsames Grundgerüst, das die Feindschaft zwischen beiden Lagern durchbricht.

Also neun Jahre Gemeinschaftsschule mit verschiedenen Zügen und danach Gymnasium?

Zöllner: Das werde ich Ihnen heute nicht sagen, obwohl ich natürlich weiß, was ich will. Ich bin froh, dass sich die Struktur, die uns 20 Jahre lang gelähmt hat, entkrampft hat. Vor fünf Jahren hätte niemand gedacht, dass eine CDU-Regierung in Hamburg die Stadtteilschule, also eine Art Gemeinschaftsschule, anstrebt.

Hüther: Nach Pisa ist unstrittig, dass wir die Kinder zu früh sortieren. Ansonsten wird sich das schon wegen der Demografie annähern. Sachsen und Thüringen haben die Regelschule für alle, weil die Demografie das erzwingt. Und warum sollen wir im hessischen Hintertaunus aus den gleichen Gründen nicht die Regelschule einführen und im Rhein-Main-Gebiet bei der Dreigliedrigkeit bleiben? Bei verbindlichen Bildungsstandards geht das.

Wie wichtig ist denn nun die Klassengröße?

Zöllner: Die Forschung sagt eindeutig, dass sie – in realistischen Größenordnungen – keine Rolle spielt. Das gilt nicht für bestimmte Phasen wie den Schulbeginn und für das Erlernen von Sprachen. 36 Schüler sind für mich aber keine realistische Größe mehr. Für die Belastung der Lehrer spielt die Klassengröße allerdings auf jeden Fall eine enorme Rolle.

Hüther: Individuelle Förderung können Sie in Klassen mit mehr als 24 Schülern vergessen. Zumal das Lehrdeputat heute so hoch ist wie zuletzt in der Kaiserzeit. Die Steiermark in Österreich hat gerade beschlossen, Klassen ab 26 Schülern zu teilen. Ohne Mut und finanziellen Einsatz werden wir auch 2012 nur Mittelmaß sein.

Das Gespräch moderierte Barbara Gillmann.

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