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(© Foto: GettyImages)
Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 8. Januar 2021

Zurück zu Maß und Mitte

Der abgewählte US-Präsident Donald Trump hat die Lage seiner Wähler kaum verbessert und die Nation tief gespalten. Sein Nachfolger Joe Biden muss das Land jetzt befrieden - politisch und wirtschaftlich, analysiert IW-Direktor Michael Hüther im Handelsblatt.

Es ist passiert, was man sich nicht vorstellen konnte und wollte: Der noch amtierende Präsident hat einen Angriff auf die amerikanische Demokratie unternommen, wenn man - im Sinne von Hannah Arendt - das Sprechen als eine Form des Handelns betrachtet. Hatte Donald Trump von Beginn seiner Amtszeit an deutlich gemacht, dass er sich im höheren Auftrag durch das Volk legitimiert sieht und deshalb wenig Rücksicht auf Institutionen und Verfahren der Demokratie übt, so hat er nun zum letzten Mittel des Verfassungsfeinds gegriffen und seine Anhänger auf skrupellose, aber geschickte Weise mobilisiert.

Der Sturm auf den Kongress, die Evakuierung des Vizepräsidenten, der Senatoren und Abgeordneten ist beispiellos in der US-amerikanischen Geschichte und erinnert an Bananenrepubliken mit schwachen Institutionen. Dass die Sicherheitsorgane versagt haben, mag an der Unvorstellbarkeit des Geschehenen liegen, entschuldbar ist es trotzdem nicht. Die Präsidentschaft Trump endet in dem Chaos und mit dem Ansehensverlust, wie er es ungebremst den etablierten politischen Kräften - verdichtet in der Chiffre "Washington" - vorgehalten hat.  Es waren keine Demonstranten, sondern bewaffnete Horden. Jeder ist für die Geister verantwortlich, die er ruft.

Demokratie lebt von zugewiesenen Rechten und Pflichten, sie verschafft der Souveränität des Volkes angemessen Ausdruck. Gerechtigkeit wird durch verlässliche und willkürfreie Verfahren sichergestellt. Das hat wenig Glamour und ist kaum mit Strahlkraft verbunden, weil es auf die Mühen des täglichen Umgangs miteinander verweist. Die schon zitierte Hannah Arendt hat uns mit dem Konzept des "öffentlichen Raums" deutlich gemacht, dass in der freien Gesellschaft jeder Mitbürger jeden Tag mit in der Verantwortung steht. Dort muss allzeit der Sinn der Politik - die Freiheit - errungen und gesichert werden. Das verlangt Verfahrensgerechtigkeit, dafür schaffen wir Verfassungen, Institutionen und Regeln.

Nun werden viele der über 74 Millionen Wähler, die am 3. November Trump ihre Stimme gegeben haben, dieser Einordnung prinzipiell zustimmen. Und vermutlich wird die übergroße Mehrheit dieser Wähler über die Ereignisse in Washington erschrocken und erschüttert sein, sie werden den Schaden erkennen, der damit der Verfassungsordnung zugefügt wurde und letztlich auch ihnen. Dennoch bleibt der erstaunliche Befund, dass nach all den Irrungen und Wirrungen der Trump-Regentschaft so viele Menschen ihm die Stimme gegeben haben. Ein Minderheitsphänomen ist Trump ebenso wenig wie eine kurzfristige Erscheinung.  Nur durch tieferliegende ökonomische Probleme und gesellschaftliche Spannungen kann dies erklärt werden.

Die politischen Strukturen und Verhaltensmuster spiegeln in den USA in besonderer Weise die wirtschaftliche Lage und deren Perspektiven. Denn die ökonomische Segregation in den vergangenen Jahrzehnten, die sich in einer historisch niedrigen Mobilität der Arbeitskräfte manifestiert, führt zu einer sich weiter ausprägenden Spaltung des Landes hinsichtlich Lebensführung, Qualifikation, der wirtschaftlichen Basis, des sozialen Verhaltens und gesellschaftlicher Perspektiven. Mobilität war nicht nur typisch für den amerikanischen Arbeitsmarkt, sondern geradezu ein zentraler Aspekt des Wohlstandsversprechens: Man kann es schaffen, zur Not an anderer Stelle. Die Menschen wandern zu den Jobs.

Dass dieses Versprechen, der "amerikanische Traum", nicht mehr wie früher trägt, unterlegt eine generative Betrachtung. So zeigen Studien für die USA, dass der Anteil der Kinder, die ein höheres Familien- oder auch Arbeitseinkommen erzielen als ihre Eltern, dramatisch zurückgegangen ist. Während bei den im Jahr 1940 geborenen Amerikanern über 90 Prozent ein höheres Einkommen erzielten als die Vätergeneration und bei den im Jahr 1950 Geborenen immerhin 80 Prozent, lag dieser Wert bei der Geburtskohorte von 1984 nur noch bei maximal 50 Prozent.  Die Vorstellung, man könne einfach zu den Jobs wandern, hat ausgedient.  Insgesamt ist die Erwerbsquote seit 2000 um vier Prozentpunkte auf 63 Prozent gesunken, während sie in Deutschland von unter 70 auf 80 Prozent anstieg. Diese ökonomischen Veränderungen spiegeln sich in der politischen Willensbildung wider.

War in früheren Jahrzehnten die Wählergunst für die Republikaner und Demokraten nicht per se geografisch in regionalen Clustern von Staaten festgelegt, so hat sich dies seit den 1990er-Jahren geändert. Seitdem sind die Staaten an der Westküste und an der nördlichen Ostküste sicher der Demokratischen Partei zuzurechnen, die sogenannten Fly-over-States der Republikanischen Partei. Im Rust-Belt gibt es viele Swing States, was dem historischen Wechsel beider Parteien als Interessenvertreter der industriell arbeitenden Mittelschicht entspricht. Zugespitzt gilt, dass die Demokraten die innovativen Zentren (Silicon Valley, Biotech-Hub um Boston, Financial Center New York) gewinnen können, während die Republikaner in den traditionellen Wirtschaftsräumen verankert sind.

Das signalisiert einen historischen Wandlungsprozess, denn die Demokratische Partei war traditionell die Partei der Arbeiterschaft gewesen. Sie hat diese Rolle aber seit den 1970er-Jahren eingebüßt, zugunsten einer Koalition von Frauen, Minderheiten und Wissensarbeitern. Zeitgleich begann die Republikanische Partei, die männliche weiße Arbeiterschaft zu umwerben, vor allem Männer, die ihre Arbeitsplätze in der Industrie verloren hatten.  Politisch hat diese Differenzierung der Parteistammwähler zu einer programmatischen Homogenisierung beider Parteien seit den 1970er-Jahren geführt.

Während die Demokraten in Nachfolge der liberalen Erfolge der 1960er-Jahre und vor allem von Johnsons "Great Society"-Programm sich immer weiter an der Identitätspolitik ausgerichtet haben, wandte sich die Grand Old Party seit den frühen 1970er-Jahren von ehemaligen liberalen Positionen - zu Gleichberechtigung, Abtreibung, Homosexualität, Einwanderung, Rassengleichstellung, Waffenbesitz - ab. "Konservative begründeten ihren Machtanspruch mit dem Scheitern des Liberalismus, das in den 1960er-Jahren begann, als der Begriff der Identität den Begriff der Gleichheit ersetzte", so die Harvard-Historikerin Jill Lepore. Diese Positionierung verhieß den Republikanern angesichts der zunehmenden demografischen Diversität nichts Gutes für die Wahlaussichten, da ihr Wählerstamm strukturell zu einer Minderheit wird.

Dagegen hat Trump in der Wahl 2016 und erneut 2020 gezeigt, dass durch die Hinwendung zu dem von Hillary Clinton genannten "basket of deplorables" eine unerwartete Mobilisierung möglich ist. Daraus erwächst seine Macht bei den Republikanern, daraus erklärt sich die seltsame Anbiederung vieler Würdenträger seiner Partei auch dann noch, als den zahllosen Vorwürfen des Wahlbetrugs keine Beweise beigefügt werden konnten. Verbessert hat Trump die Lage seiner Wähler indes kaum. Das jüngste Wirtschaftswachstum in den USA war auffallend auf die reichsten und größten Städte ausgerichtet. Offenkundig finden sich Superstar-Unternehmen in Superstar-Städten, prägen so wissensbasierte Volkswirtschaften wie die USA und verstärken die schon gewachsene regionale Ungleichheit zwischen den Beschäftigten.

Gegen diese Trends kann eine nationale Wirtschaftspolitik nur dann Wirkung entfalten, wenn sie auf eine regionalpolitische Strategie setzt, die neben Bildungsinfrastruktur - vor allem auch einer beruflichen Bildung - gezielt eine Ansiedlungspolitik betreibt, damit Jobs zu den Menschen kommen, weil die Wanderung nicht mehr wie früher funktioniert. Das ist allerdings in Washington politisch schwer vermittelbar. Aus diesem Dilemma kann Joe Biden herausfinden, wenn er seine jetzt gewonnene Handlungsfähigkeit klug nutzt; er wird seine Präsidentschaft nur mit innenpolitischen Themen zum Erfolg bringen können. Den Institutionen und Regeln der Verfassung wieder den gebührenden Rang zu geben kann aber nur gelingen, wenn die moderaten Republikaner mitziehen, im Grenzfall bereit zur Spaltung, und die moderaten Demokraten innerparteilich in der Vorderhand sind. Gemeinsamkeit muss in Washington errungen werden, um auf das Land ausstrahlen zu können.

Der Angriff auf die Demokratie bleibt in seinen Lehren nicht auf die USA beschränkt. Die Erkenntnis, dass verlässliche und willkürfreie Verfahren nicht nur am überzeugendsten Gerechtigkeit und Fairness schaffen, sondern zugleich der Freiheit aller dienen, muss auch bei uns immer wieder beworben werden. Die Hinnahme der Mehrheitsentscheidung, die auf der Einbeziehung aller Minderheitenrechte fußt, und die Akzeptanz von parlamentarischen Prozeduren verlangen allerdings, auf die moralische Überhöhung der eigenen Position oder gar der eigenen Identität zu verzichten.

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