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IW-Direktor Michael Hüther
Michael Hüther in der Welt Gastbeitrag 17. Mai 2019

Die EU braucht einen ehrlichen Neuanfang

Die EU ist erstaunlich erfolgreich darin, die negative Seite des Nationalstaats einzuhegen – durch Souveränitätsverzicht. Um die Identifikation der Bürger mit ihr zu stärken, braucht sie nun Klarheit. Ein Prinzipienkatalog für Reformen von IW-Direktor Michael Hüther.

2019 bietet die Aussicht für einen ehrlichen Neuanfang in Europa. Der Brexit-Schock wirkt, Trump macht täglich deutlich, dass der transatlantische Kosmos sich verändert hat, China wird zunehmend als das gesehen, was es ist: eine staatskapitalistische Wirtschaft in einer politischen Diktatur.

Die Konstituierung des neuen Parlaments, die Wahl der neuen Kommission und die Wahl des neuen Ratspräsidenten kommt einer Richtungsbestimmung gleich. Zugleich muss für den Zeitraum 2021 bis 2027 der mehrjährige Finanzrahmen festgelegt werden, was weitreichende programmatische Festlegungen nach sich zieht.

Was bedeutet das alles für die europäische Integration? Die geübten Stehsätze europapolitischer Bekenntnisse helfen hier nicht weiter. Ins Archiv gehört die scheinbar große Erzählung von der Vollendung des europäischen Projekts. Die europäische Integration ist eben kein Projekt, sondern ein Prozess; sie ist nie vollendet, sondern dauernd in Bearbeitung und im Werden. Das nimmt dem Ganzen die Dramatik und eröffnet als Herausforderung praktischer Vernunft die Chance, Europa an den Lebensbedingungen und Erfahrungen der Menschen zu orientieren.

Und hier besteht durchaus Grund zur Hoffnung, denn nach der letzten Eurobarometer-Umfrage signalisieren mehr als vier von zehn Europäern Vertrauen in die Europäische Union, der höchste Stand seit Herbst 2010. In 17 EU-Mitgliedstaaten überwiegt das Vertrauen in die EU, mehr als doppelt so viele Europäer haben ein positives als ein negatives Bild von der EU. Das Friedensnarrativ hat indes seine frühere Strahlkraft eingebüßt, Friede wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Und selbst seine Bedrohung spricht für die Jüngeren nicht per se für Europa, da es anscheinend nicht mehr in der Lage ist, Konflikte auszuhandeln.

In dieser Situation wirkt es absurd, wenn die auf dem Europäischen Gipfel in Stuttgart 1983 erstmals formulierte Perspektive „to progress towards an ever closer union“ weiterhin wie eine Monstranz vorgetragen wird; die sowieso etwas blumige Idee der Vereinigten Staaten von Europa ist verwelkt.

Die historische Herausforderung besteht vielmehr darin, eine heute – nach der Süderweiterung und der Osterweiterung der EU, nach Errichtung des Binnenmarktes, nach der Schaffung der Europäischen Währungsunion – angemessene Vorstellung von Europa zu formulieren. Was stünde 2019 in einem Delors-Bericht, der seinerzeit auf eine Phase des Stillstands und der europapolitischen Aporie reagierte?

Die Europäische Integration steht – eine für viele unerträgliche Einsicht – nicht gegen die Nationalstaaten, sondern beruht auf diesen. Ohne den Nationalstaat als Organisationseinheit und Ordnungsprinzip für das Miteinander von Gesellschaften gäbe es die EU nicht. Sie daher mittels der Europäisierung überwinden zu wollen, kommt einem Widerspruch in sich gleich. Die nationalstaatliche Tradition begründet die Abstoßreaktion gegen Fremdbestimmungen durch EU-Institutionen.

Das westliche Konzept souveräner Staatlichkeit beruht auf den Grundsätzen der Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Landes sowie der Gleichheit der Staaten im internationalen Recht unabhängig von Größe und innerer Verfasstheit.

Die Europäische Union ist der – erstaunlich erfolgreiche – Versuch, die negative Seite des Nationalstaats gemäß „Einigkeit in Vielfalt“ einzuhegen. Historisch ohne Vorbild hat die horizontale Integration in Europa erstmals zu freiwilligem nationalem Souveränitätsverzicht geführt. Neben der ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Vernetzung über offene Grenzen hinweg schaffen so gemeinsame Institutionen, Rechtsordnungen und Harmonisierungen diese Einhegung.

Die Nationen haben bedingt durch ihre Geschichte als frühe oder in Schüben verspätete Nationen unterschiedliche Identitätswirkungen für die Bindungen der Bürger entwickelt. Die europäische Idee wird deshalb in den Mitgliedstaaten der EU historisch unterschiedlich verstanden und entsprechend unterschiedlich in ihren Konsequenzen für politische Gestaltung gedeutet. Verschärft wird dies durch das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit, einem europaweiten öffentlichen Raum als Ort der Debatte, der Aushandlung, der Konfliktlösung, der Kompromissfindung – und damit der Identitätsprägung.

Was also ist zu tun? Zunächst einmal darf die Integrationsidee nicht durch Ignoranz kultureller Differenzierung und unterschiedlicher nationaler Identitätsbedarfe überdehnt werden, zumal sich das Subsidiaritätsprinzip bei Weitem nicht als so wirkungsvoll erwiesen hat wie erhofft. Gleichzeitig ist in jüngeren Mitgliedstaaten so munter wie sanktionsfrei gegen Rechtsstaatsprinzipien verstoßen worden – was die Union als Rechtsgemeinschaft schwächt.

Die Europäische Union muss Politik für praktische Vorteile der Bürger machen und Zukunftsoptionen eröffnen, statt „Narrative“ für das Jenseits zu pflegen. Das lenkt den Blick vor allem auf unionsweite öffentliche Güter und Skaleneffekte: äußere und innere Sicherheit, Mobilität, Digitalität.

Die mögliche Stärke des gemeinsamen Auftretens ist die europäische Chance, nicht zwischen den dominanten Mächten China und USA an Bedeutung zu verlieren – politisch, wirtschaftlich und kulturell. In diesem Sinne kann an die Stelle der Finalität die Identität Europas treten: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Konkret heißt das:

(1) Europa darf kein Elitenprojekt sein, sondern muss für breite Bevölkerungsschichten erlebbar werden. Hier sollten Strategien für eine verbesserte Mobilität der Menschen greifen: gemeinsame Standards für Sprachausbildung, mehr Mittel für Schüleraustausch und Erasmus-Programm, Abbau von Mobilitätshemmnissen für Arbeitnehmer.

(2) Es braucht eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft, die der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ein kraftvolles Fundament verschafft und auch einer gemeinsamen Migrationspolitik mehr Halt gibt. So kann die Idee, Europa als einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu konstituieren, wieder Realität werden. Die militärischen Konflikte sind an die Grenzen Europas herangerückt. Die Bürger Europas – wie übrigens auch Deutschlands – sind mehrheitlich von der Einschätzung geprägt, dass die Friedensdividende der 1990er-Jahre noch wirksam ist. Dies ist falsch.

(3) In den vergangenen gut zweieinhalb Jahrzehnten haben sich die europäischen Volkswirtschaften intensiver vernetzt; Binnenmarkt und gemeinsame Währung haben die Handelsströme intensiviert und die Bildung grenzüberschreitender Wertschöpfungsketten befördert. Dies sollte durch eine Strategie für den Binnenmarkt 2.0 in die Zukunft geführt werden. Das betrifft den Ausbau transeuropäischer Netze sowie der grenzüberschreitender (Verkehrs-) Infrastruktur, die Forschungskooperation in zentralen Zukunftsthemen und die Weiterentwicklung kluger, d.h. standardsetzender Regulierung für die digitale Transformation.

(4) Angesichts der regionalen Differenzierung sollte die Kohäsionspolitik, die Europa vor Ort erlebbar macht, stärker auf die Bildung handlungsfähiger Institutionen setzen und einen Beitrag zur europäischen Identitätsbildung leisten. Die Förderprogramme sollten vereinfacht und systematisch begleitend evaluiert werden.

(5) Grundsätzlich kommt die Notwendigkeit hinzu, das Demokratiedefizit der Union aufzulösen. Das erfordert eine Konzentration auf wirklich europäische Handlungsfelder. Und es verlangt eine stärkere demokratische Wirksamkeit des Parlaments, was eine Klärung im Verhältnis zum Rat – etwa als zweite Kammer – einschließt. Um mit Max Frisch zu enden: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“

Zum Gastbeitrag auf welt.de

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