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(© Foto: iStock)
Maximilian Stockhausen auf Focus.de Gastbeitrag 7. Januar 2020

Deutschlands sozialer Fahrstuhl funktioniert viel besser, als die meisten denken

Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) steht Deutschland in Sachen Aufstieg schlecht da. Doch IW-Verteilungsexperte Maximilian Stockhausen widerspricht dieser Aussage. Er sagt: Zum Beispiel das duale Ausbildungssystem und die damit verbundenen Karriere- und Einkommensmöglichkeiten schaffen viele Aufstiegschancen in Deutschland, die es anderswo nicht oder in geringerem Umfang gibt.

Jeder von uns hat diese Situation sicherlich schon einmal erlebt: Wir stehen mit Sack und Pack am Bahnhof vor einem Fahrstuhl und ärgern uns, dass dieser mal wieder nicht funktioniert. Also heißt es in den sauren Apfel beißen und auf zur Treppe, wo wir uns dem Strom entgegenkommender Menschen stellen müssen. Unser Ziel erreichen wir am Ende mit Mühe und Not. Andere kommen zu spät und müssen den nächsten Zug, die nächste Gelegenheit abwarten. Warum erzähle ich Ihnen das?

Das Bild eines kaputten Fahrstuhls verwendete im vergangenen Jahr die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), als sie Deutschland ein überraschend geringes Maß an sozialer Mobilität attestierte. Der soziale Fahrstuhl, der sinnbildlich für den sozialen Aufstieg zwischen den Generationen steht, sei kaputt. Gemessen an den Arbeitseinkommen von Vätern und Söhnen läge die Bundesrepublik mit Blick auf die Aufstiegschancen demnach auf einem Niveau mit Indien oder China und weit hinter den USA.

Gesellschaftlicher Aufstieg aus unteren Einkommensschichten scheint fast unmöglich

Es dauere im Durchschnitt circa sechs Generationen, bis eine Person aus dem untersten Einkommensbereich das gesellschaftliche Durchschnittseinkommen erreiche, wenn alles andere in der Zwischenzeit gleich bleibe. Das Gepäck erscheint enorm, um im Bild zu bleiben, und der gesellschaftliche Aufstieg aus den untersten Einkommensschichten fast unmöglich.

Doch dieses Ergebnis ergibt sich aus ungewöhnlichen Annahmen, wie von vielen Seiten moniert wurde, und unterschätzt die tatsächlichen Aufstiegschancen in Deutschland deutlich. Es ist richtig, dass nicht jeder den gesellschaftlichen Aufstieg schafft und dass die familiäre Herkunft einen Teil des persönlichen Erfolgs im späteren Leben erklärt.

Richtig ist auch, dass die Bildungsmobilität im internationalen Vergleich eher gering ist: Die jüngsten PISA-Ergebnisse lassen nur wenig Hoffnung aufkommen, dass sich daran schnell etwas ändern wird. Aber es sollte auch nicht verschwiegen werden, dass es zuvor Fortschritte auf diesem Gebiet gegeben hat.

Ausbildungsmöglichkeiten schaffen viele Aufstiegschancen

Doch, und das ist wichtig, es besteht kein Automatismus, dass sich eine geringe Bildungsmobilität in eine geringe Einkommensmobilität übersetzt. So hängen Einkommen und Bildung zwar zusammen und besser ausgebildete Menschen sind seltener von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit betroffen, aber die duale Ausbildung und die damit verbundenen Karriere- und Einkommensmöglichkeiten schaffen viele Aufstiegschancen in Deutschland, die es anderswo nicht oder im geringeren Umfang gibt.

Dies gilt insbesondere in Zeiten von Arbeitnehmermärkten und Fachkräfteengpässen, wie wir sie derzeit erleben. Auch als Facharbeiter lassen sich im Laufe des Erwerbslebens hohe Gehälter erzielen und beachtliche Karrieren machen. Einige DAX-Vorstände sind Aufsteigerkinder.

Ein höchstmögliches Einkommen zu erzielen, ist nicht für alle erstrebenswert

Nicht zuletzt spielen Veränderungen von Erwerbsumfängen innerhalb und zwischen den Geschlechtern eine gewichtige Rolle. Auch die Präferenzen für Arbeit und Freizeit haben sich im Laufe der Zeiten gewandelt: Ein höchstmögliches Einkommen zu erzielen, ist längst nicht mehr für alle erstrebenswert. In der öffentlichen Debatte verschwimmen die Abgrenzungen zwischen Bildungs- und Einkommensmobilität jedoch oft und Differenzierungen sind selten.

Dementsprechend sind viele Menschen verunsichert und glauben, dass die soziale Mobilität insgesamt gering sei. Das Gros der Studien zur intergenerationalen Einkommensmobilität für Deutschland zeigt jedoch, dass die Einkommensmobilität beachtlich ist, und die OECD-Ergebnisse ein extremer Sonderfall sind: Neueste Schätzungen legen nahe, dass lediglich 30 Prozent der Einkommensunterschiede in der Generation der Kinder auf die Eltern zurückgehen. Ältere Studien sprechen von rund zehn Prozent, die höchsten Schätzungen gehen von bis zu 39 Prozent aus. Aber keine erreicht einen Wert von 55 Prozent, wie es die OECD herausgefunden hat. Demzufolge dauert es im Durchschnitt auch eher zwei bis vier Generationen, bis eine Person aus der untersten Einkommensgruppe in die gesellschaftliche Mitte aufsteigt, und nicht sechs.

Hohe Einkommensmobilität bedeutet auch hohe Unsicherheit

Woher kommt der Unterschied? In erster Linie dadurch, dass die OECD die Selbständigen in ihrer Analyse ausgeblendet hat. Eine Bevölkerungsgruppe, die in aller Regel durch eine hohe Einkommensdynamik gekennzeichnet ist.

Nun kann man sich fragen, ob ein Wert von 30 Prozent gut oder gut genug ist, zumal die (relative) Einkommensmobilität in Ländern wie Dänemark oder Schweden höher liegt. Dabei sollte beachtet werden, dass jedem Aufstieg auch ein Abstieg gegenübersteht, und es keine einhellige Meinung darüber gibt, wie viel Durchlässigkeit für eine Gesellschaft tatsächlich wünschenswert ist.

Denn eine hohe Einkommensmobilität zwischen den Generationen kann auch gleichbedeutend mit einer hohen Unsicherheit über die zukünftigen Einkommensverhältnisse sein. Da die Deutschen nicht unbedingt als risikofreudiges Volk gelten – also stabile Einkommensverhältnisse und Planbarkeit schätzen – kann das derzeitige Ausmaß der Einkommensmobilität, das uns im internationalen Vergleich der Industrienationen eine Platzierung im vorderen Mittelfeld beschert, durchaus ein guter Wert sein.

Der soziale Fahrstuhl funktioniert

Gleichzeitig sollte bedacht werden, dass die relative Einkommensmobilität, wie wir sie bisher diskutiert haben, noch nichts über absolute Wohlstandsgewinne zwischen den Generationen aussagt. So können breite Teile der Bevölkerung an Wohlstand gewinnen, während ein geringes Maß an relativer Einkommensmobilität vorherrscht. Das wäre dann der Fall, wenn der soziale Fahrstuhl groß genug ist, um allen einen Platz bei der Fahrt nach oben zu bieten, ohne die Reihenfolge beim Ein- und Ausstieg zu verändern.

So zeigen eigene Untersuchungen, dass rund zwei Drittel der westdeutschen Söhne der Jahrgänge von 1955 bis 1975 mehr als ihre Väter im Leben verdienen konnten, die sogenannte absolute Einkommensmobilität demzufolge beträchtlich ist. Besonders oft gelang der Aufstieg, wenn der Vater aus der untersten Einkommensgruppe stammte (rund 90 Prozent).

Aber auch hier gilt: Alle Ungleichheiten und unterschiedlichen Startchancen im Leben lassen sich nicht beseitigen. Am Ende ist es wichtig festzuhalten, dass vielen Kindern in Deutschland der soziale Aufstieg gelingt, wenngleich das Gepäck einiger schwerer ist als das anderer. Der soziale Fahrstuhl funktioniert, und falls er einmal außer Betrieb sein sollte, können zur Not immer noch die Treppen benutzt werden.

Zum Gastbeitrag auf focus.de

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