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Hagen Lesch / Helena Schneider in der Wirtschaftswoche Gastbeitrag 11. April 2019

70 Jahre Tarifvertragsgesetz: Der Tarif muss gerettet werden, aber ohne den Staat

Am 9. April 1949 trat das Tarifvertragsgesetz in Kraft. Der fortschreitende Rückgang der Tarifbindung in den vergangenen Jahrzehnten zeigt aber, dass gute Rahmenbedingungen allein nicht reichen. Gefragt sind auch die Tarifpartner, schreiben die IW-Tarifexperten Hagen Lesch und Helena Schneider in einem Beitrag für die Wirtschaftswoche.

Eine Auswertung des Sozio-oekonomischen Panels zeigt, dass 2017 nur noch 37 Prozent der Beschäftigten nach einem Flächentarifvertrag bezahlt wurden und weitere 11 Prozent nach einem Firmentarifvertrag. Auch wenn sich viele Unternehmen an Tarifverträgen orientieren, wird kontrovers darüber diskutiert, wie die Tarifbindung zu stärken ist. Die eine Seite fordert, die Reichweite von Flächentarifverträgen durch Staatseingriffe zu steigern, andere sehen darin einen Anschlag auf die negative Koalitionsfreiheit. Das Grundgesetz schreibt eben weder einen Koalitionszwang noch eine Tarifpflicht vor.

Eine Kernforderung der Befürworter von mehr staatlicher Unterstützung des Tarifsystems ist die stärkere Nutzung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Mit diesem Instrument kann die Regierung einen Flächentarifvertrag auch auf jene Arbeitnehmer und Unternehmen des Geltungsbereichs ausweiten, die nicht in den Vertragsparteien organisiert sind. Dies setzt aber voraus, dass dem betreffenden Tarifvertrag eine überwiegende Bedeutung zukommt.

Genau hier stößt die im Tarifvertragsgesetz festgeschriebene Allgemeinverbindlicherklärung jedoch an ihre Grenzen. Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion über einen flächendeckenden Tarifvertrag in der Pflege. Nur wenige Beschäftigte werden dort nach einem einheitlichen Tarifvertrag bezahlt. Die Marke von 50 Prozent Tarifbindung, die immer noch als grober Orientierungspunkt gilt, um die überwiegende Bedeutung eines Tarifvertrages nachzuweisen, wird längst nicht erreicht. Wo aber die Tarifbindung schwach ist, sind dem Gesetzgeber die Hände gebunden. Er kann nicht einfach den Vertrag einer Minderheit auf die Mehrheit übertragen. Die Tarifbindung ist aber nicht nur in der Pflege gering. Die Allgemeinverbindlichkeit scheidet daher für viele Branchen als Instrument zur Steigerung der Reichweite von Tarifverträgen aus. Sie kann damit nicht als Allheilmittel dienen, um das schwächelnde Tarifsystem zu stärken.

Wo der Staat nur begrenzte Möglichkeiten hat, stehen die Tarifparteien in der Verantwortung. Die Gewerkschaften müssen die Arbeitnehmer davon überzeugen, sich mehr zu organisieren, gerade auch in kleinbetrieblich strukturierten Dienstleistungsbranchen. Die Arbeitgeberverbände müssen diskutieren, wie sie ihre Kräfte bündeln können und welche strategische Bedeutung jene Arbeitgeberverbände künftig haben sollen, die keine Tarifbindung vermitteln. Das würde auch in der Pflege helfen. Wenn die Gewerkschaften es schaffen, sich besser zu organisieren und die unterschiedlichen privaten Arbeitgeber der Branche ihre Interessengegensätze überbrücken, also in einem einheitlichen Arbeitgeberverband zusammenschließen, wären wichtige Voraussetzungen für den Abschluss eines Flächentarifvertrags gegeben.

Diese Debatten können aber nicht unabhängig davon geführt werden, dass gerade kleinere und mittlere Betriebe einen großen Bogen um Flächentarifverträge machen. Während in großen Betrieben ab 2000 Mitarbeitern mehr als die Hälfte der Beschäftigten nach einem Flächentarifvertrag bezahlt werden, beläuft sich der Anteil in Betrieben mit weniger als 200 Beschäftigten gerade einmal auf 23 Prozent. Das zentrale Produkt der Tarifautonomie ist der Flächentarifvertrag. Er muss für Arbeitnehmer wie Unternehmer vorteilhaft sein. Es ist höchste Zeit, eine solche Win-win-Situation herbeizuführen. Das kann der Staat den Tarifparteien nicht abnehmen.

Zum Gastbeitrag auf wiwo.de

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